Süddeutsche Zeitung

Black Lives Matter:Teile und befriede

Lesezeit: 3 min

Das Powersharing-Modell beendete die Bürgerkriege in Nordirland oder Bosnien erfolgreich. Was können polarisierte Demokratien daraus für ihre inneren Konflikte lernen?

Gastbeitrag von Dominic Rohner

Öffentliche Empörung, eine erbitterte und polarisierende politische Debatte, Bürgerrechtler, die Straßen und Plätze besetzen und es satthaben, als Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden, und eine konservative Regierung, die auf "Recht und Ordnung" pocht. Dies entspricht der Situation in Nordirland im Jahr 1972 ... und den Vereinigten Staaten heute. Die "Black Lives Matter"-Demonstrationen gegen Polizeigewalt und andere Formen der Entrechtung, die in diesem Jahr nach den vielen gewaltsamen Todesfällen schwarzer US-Bürger New York, Portland, Kenosha und vielen weitere amerikanische Städte erschütterten, werden auch nach der Abwahl von Donald Trump eine Rolle spielen und sich potenziell sogar weiter verschärfen. Auch wenn sich die Konflikte in Qualität und Konstellation deutlich unterscheiden, so liefern doch gerade die Nordirischen "Troubles" Lektionen darüber, was bei tiefen innergesellschaftlichen Konflikten zu tun und zu lassen ist. Diese Schlussfolgerungen sind heute genauso relevant wie vor 20 Jahren.

Die Geschichte beginnt düster: Derry's "Blutsonntag" zeigt die Gefahr auf, die eine Entsendung der Armee zur Eindämmung friedlicher Proteste auslöst. Im sogenannten Bogside Massacre am 30. Januar 1972 töteten britische Soldaten 14 unbewaffnete Zivilisten, die friedlich gegen willkürliche Polizeimaßnahmen protestierten, wie etwa Internierungen ohne Gerichtsverfahren. Die Konsequenz: Die Gewaltbereitschaft in Nordirland explodierte, Gesellschaft und Wirtschaft versanken über Jahrzehnte in einer katastrophalen Abwärtsspirale.

In der gewalttätigen Vergangenheit Nordirlands lassen sich aber nicht nur Fehlentscheidungen identifizieren, sondern auch Schlüsse ziehen, wie Missstände gemildert und eine integrativere Gesellschaft aufgebaut werden kann. Wie eine kürzlich publizierte Studie zeigt, sind lokale Machtbündnisse zwischen religiösen Gruppierungen der Schlüssel zu Aufbau von Vertrauen und Abbau von Gewalt. Solche lokalen, parteiübergreifenden Schulterschlüsse haben weltweit vermutlich Hunderte Menschenleben gerettet und haben sich oft als Vorläufer umfassender landesweiter Vereinbarungen zur Machtteilung entwickelt.

Am Karfreitag, 10. April 1998, traten der damalige britische Premierminister Tony Blair und sein irischer Amtskollege Bertie Ahern stolz vor die Weltpresse und verkündeten, dass ein Friedensvertrag ausgearbeitet worden sei. Dieses Abkommen, das später als "Karfreitagsabkommen" oder "Belfast-Abkommen" in die Geschichte eingehen sollte, schuf die Nordirische Versammlung und eine dezentralisierte nordirische Regierung, in der sowohl protestantische als auch katholische Parteien nebeneinander vertreten waren.

Polizeireformen, Quoten und stabile Wahlen haben sich als effektive Mittel der sozialen Entspannung erwiesen

Ein zentraler Punkt war dabei die Polizeireform, die zum Ziel hatte, einen Neuanfang für die Polizeiarbeit in Nordirland einzuleiten. Dies beinhaltete die Verpflichtung, dass jede Bevölkerungsgruppe proportional im Polizeikorps vertreten sein muss, dem Gesetz gegenüber voll rechenschaftspflichtig ist, und unter strenger Kontrolle eine faire und unparteiische Behandlung aller Bevölkerungsgruppen gewährleisten sollte. In den folgenden Jahren kam es zu einer geradezu spektakulären Verbesserung der Beziehungen zwischen den nordirischen Religionsgemeinschaften und einer rapiden Gewaltreduktion.

Verschiedene Forscherteams aus Europa und den Vereinigten Staaten haben die Rolle von Machtteilung (" Power-sharing") für Friedensbemühungen weltweit statistisch analysiert und festgestellt, dass Polizeireformen in der Befriedung gesellschaftlicher Konflikte eine tragende Rolle spielen können. Entscheidend ist die Ausgangslage: Es ist einfacher, Machtteilung erfolgreich umzusetzen, wenn die Anzahl politisch relevanter Gruppen überschaubar ist. Dies verhindert die politische Ausgrenzung von Minderheiten - die sonst zu "Spielverderbern" des Friedens werden können. Zudem haben weitreichende Abkommen, die sowohl politische, territoriale, ökonomische und militärische Dimensionen von Machtteilung beinhalten, besonders gute Erfolgschancen. Nicht zuletzt kommt es auf die sorgfältige Planung von sicheren, soliden Neuwahlen an.

Kann das Modell Machtteilung auch Abhilfe schaffen bei aktuellen gesellschaftlichen Spannungen in demokratischen Ländern, die sich nicht im Kriegszustand befinden, wie eben im Fall der amerikanischen Rassenunruhen? Wie zwei jüngste Studien der Universität Nottingham aufzeigen, hat der amerikanische "Voting Rights Act" von 1965 der schwarzen Bevölkerung zu einem größeren politischen Gewicht und einer besseren Vertretung in politischen Ämtern verholfen - und gleichzeitig zu einem überproportionalen Rückgang der Verhaftungen schwarzer Bürger geführt.

Ein weit verbreiteter Fehlschluss ist, dass de jure Diskriminierungsverbote genügen, um direkt und automatisch angemessene Vertretung sicherzustellen. Wie Frauen sind auch schwarze Amerikaner in Machtpositionen untervertreten. Während der Anteil schwarzer Politiker im Repräsentantenhaus (12 Prozent) einigermaßen den schwarzen Bevölkerungsanteil (13 Prozent) widerspiegelt, ist die schwarze Bevölkerung im Senat (nur drei von 100) und bei den Gouverneuren (null) krass untervertreten. Auch in Polizeieinheiten leiden Minderheiten in den Vereinigten Staaten immer noch unter mangelhafter Vertretung in Polizeieinheiten.

Repräsentanz mithilfe von Quoten in Exekutive und Legislative zu erhöhen ist ein wichtiger Schritt zur gesellschaftlichen Machtteilung und inneren Befriedung. Aber - vor allem und nicht nur in den USA - auch der Abbau sozialer Ungleichheit, etwa durch Bildungsreformen gehört dazu. Die neue US-Regierung lebt zumindest eine gewisse Parität vor. Jenseits der Symbolik liefert ihr die Geschichte aber auch ein innenpolitisches Instrumentarium, um jene wahrhaft "Vereinigten Staaten" zu verwirklichen, für die der künftige Präsident Joe Biden geworben hat.

Dominic Rohner ist Professor für Volkswirtschaft an der Universität Lausanne und Leiter des vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Forschungsprojekts "Policies for Peace".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5114917
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.