Hadsch in Zeiten von Corona:"Sehr dankbar, dass sie den Ritus aufrechterhalten"
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Zur islamischen Pilgerfahrt nach Mekka dürfen wegen der Corona-Pandemie statt der etwa 2,5 Millionen Muslime, die sonst erwartet würden, nur 1000 inländische Pilger kommen. Islamwissenschaftlerin Kathrin Klausing hat den Hadsch bereits zweimal gemacht - und erklärt, was die Faszination ausmacht.
Interview von Dunja Ramadan
Die Corona-Pandemie stellt auch das religiöse Leben auf den Kopf. Christen mussten auf den Ostergottesdienst verzichten, Muslime auf das gemeinsame Fastenbrechen im Monat Ramadan. Nun steht das nächste religiöse Großereignis an: Die islamische Pilgerfahrt, der sogenannte Hadsch in Saudi-Arabien, ist für Besucher aus dem Ausland tabu. Statt den 2,5 Millionen Muslimen, die sonst nach Mekka reisen, sind in diesem Jahr nur 1000 inländische Pilger zugelassen.
Die deutsche Islamwissenschaftlerin und promovierte Arabistin Kathrin Klausing arbeitet am Institut für Islamische Theologie an der Universität Osnabrück. Sie ist im Jahr 2000 selbst zum Islam konvertiert. Auch sie wollte in diesem Jahr nach Mekka reisen.
SZ: Sie hatten sich für die Pilgerfahrt nach Mekka registriert. Waren Sie enttäuscht, als die Absage kam?
Kathrin Klausing: Ja, ich hatte bis zuletzt gehofft und wollte schauen, was kommt. Dennoch finde ich die Entscheidung richtig, denn die Pandemie ist ja noch nicht überstanden. Ich bin aber ehrlich gesagt erleichtert, dass der Hadsch überhaupt stattfindet. In der Geschichte ist es schon passiert, dass sie wegen Seuchen, aber auch bewaffneten Konflikten und Raubüberfallen gar nicht erst stattfand.
Ich bin den 1000 Pilgerinnen und Pilgern deshalb sehr dankbar, dass sie den Ritus aufrechterhalten. Für den Rest der Muslime sind die Tage des Hadschmonats ja trotzdem eine besonders gesegnete Zeit. Am Freitag ist der höchste muslimische Feiertag, das Opferfest.
Wie hat die muslimische Welt auf die Verkündung des Mini-Hadsch reagiert?
Sehr pragmatisch. Im Islam hat die Gesundheit und das Leben einen höheren Stellenwert als individuelle Praktiken und Rituale. Das geht einfach vor. Vor allem die Unversehrtheit des Körpers spielt dabei eine wichtige Rolle.
Das sieht man auch an den Riten: Während des Gebets bewege ich meinen Körper. Ich beuge ihn nach vorne, werfe mich nieder, erhebe mich. Als Pilgerin laufe ich sieben Mal um die Kaaba und lege lange Strecken zurück. Der Körper hat nach islamischem Verständnis ein Recht auf Bewegung, auf Schlaf, auf gutes Essen - und auch auf Wertschätzung.
In der Koransure "Die Feige" heißt es zum Beispiel: "Wir haben den Menschen ja in schönster Gestalt erschaffen". Als Muslim sollte man deshalb dankbar für den eigenen Körper sein. Das sage ich auch immer jungen Leuten, die sich auf Instagram von einem vermeintlichen Schönheitsideal verunsichern lassen.
Da gibt es dieses Bittgebet, das dem Propheten Mohammed zugeschrieben wird: "O Allah, du hast meine Gestalt schön erschaffen, so verschönere auch meinen Charakter." Ich selbst achte als Wissenschaftlerin aber leider viel zu selten darauf. Ich sitze ständig vor dem PC. Mein armer Rücken.
Vielen gilt der Islam als Religion der Regeln. Man darf keinen Alkohol trinken, muss im Ramadan fasten und fünf Mal am Tag beten.
Natürlich gibt es Regeln, wie in allen Religionen. Aber es sollte immer auch eine Balance zwischen Realität und Gebot geben. Religion sollte nichts Abgekapseltes sein, sondern eine allgemeine Bildungsoffenheit und auch eine religiöse Identität pflegen, die das zulässt.
In der gemäßigten islamischen Tradition hat das ganz gut geklappt. Nehmen wir das fünfmalige Gebet: Bei Reisen können Muslime das Gebet verkürzen und zusammenlegen, bei Verletzungen können sie das Gebet im Sitzen verrichten. Wenn Alkohol zur Heilung dient, wird das Alkoholverbot gegen ein höheres Gut der Gesundheit abgewägt. Nichts ist starr.
Ich zitiere da gerne den Koranvers, der im Zusammenhang mit dem Fasten offenbart wurde: "Allah will für euch Erleichterung; Er will für euch nicht Erschwernis" (2:185) oder wenn der Prophet einen seiner Gefährten zu anderen Menschen schickte, pflegte er sinngemäß zu sagen: Bringt den Menschen frohe Kunde und schreckt sie nicht von der Religion ab; macht es leicht und erschwert ihnen den Weg zur Religion nicht!"
Der Islam sollte eine Religion fürs Leben und zum Leben sein. Deshalb kann er in Coronazeiten auch so flexibel auf die neuen Herausforderungen reagieren, wie jetzt bei dem Hadsch.
Frauen, die nach Mekka gepilgert sind, tragen in der islamischen Welt den Ehrentitel Haddscha. Sind Sie denn eine?
Ja, ich war bisher zwei Mal bei der Pilgerfahrt - und zum Glück habe ich keine Platzangst. Ich gehöre eher zur Fraktion: Wo ist die Kaaba? Da will ich hin. Ich fand es sehr angenehm mit so vielen Menschen aus der ganzen Welt diesen Marsch zu schaffen. Manche Gesichter habe ich noch ganz stark vor Augen, obwohl ich sie nur flüchtig gesehen habe.
Mein erster Hadsch war Anfang der 2000er, es war Winter und hat geregnet. Wir waren gerade in Mina und Muzdalifa, sind also von der symbolischen Steinigung des Teufels zurückgekommen. Ich hatte mich erkältet, fühlte mich schwach und fiebrig. Doch es fehlte mir noch die siebenmalige Umkreisung der Kaaba.
Bei der dritten oder vierten Runde hätte ich fast schlappgemacht, da packte mich eine kleine, faltige Dame am Ellbogen, total resolut und wir machten gemeinsam die letzten Runden. Wir haben kein Wort geredet, aber sie hat mir von ihrer Kraft abgegeben. Im Sinne: Wir schaffen das. Das sind Erlebnisse, die man nicht vergisst.
Mit Blick auf die geltenden Abstandsregeln in Mekka werden solche Begegnungen in diesem Jahr wohl ausfallen. Welchen Einfluss hat Social Distancing auf das Zusammengehörigkeitsgefühl von Gläubigen?
In unserer Zeit sind soziale Bindungen oft sehr flüchtig. Familien sind kleiner geworden, Beziehungen gehen schneller in die Brüche. In Moscheen trifft man auf Menschen aus allen Schichten und Phasen des Lebens.
Religiöse Gemeinschaft ist deshalb auch so schwer, weil man sie aushalten muss. Ich bin im Jahr 2000 zum Islam konvertiert und war erst voller Euphorie. Dann habe ich gemerkt: Wir sind alle nur Menschen und man geht sich manchmal einfach auch wahnsinnig auf die Nerven. Aber dafür teilt man Leid und Freude, in Form von Totengebeten, Bestattungsritualen, aber auch von Hochzeiten und Geburten. Gerade in Coronazeiten wird einem bewusst, wie sehr wir den Tod im Alltag verdrängen. Dabei ist er die einzige Gewissheit, die wir haben.
Was würden Sie sich für die Zeit nach Corona wünschen?
Wir meckern ganz schön viel über zu späte Züge, dabei merken wir gar nicht, wie gut hier alles funktioniert. Ich werde von Freunden global beneidet, dass ich in Deutschland lebe und eine Krankenkassenkarte habe, mit der ich zum Arzt gehen kann.
Ich glaube, dass viele Menschen jetzt erst merken, dass das Leben nicht immer so weitergeht, wie sie es von gestern kennen. Die Coronazeit hinterlässt bei vielen Brüche im Bewusstsein.
Im Islam gibt es zwei mögliche Antworten auf Leid: Dankbarkeit und Standhaftigkeit - Schukr und Sabr. Jetzt haben wir alle die Chance Dankbarkeit zu üben, als wäre sie ein Muskel, den wir bei jeder neuen Herausforderung trainieren können. Wie beim Sport. Wir können uns eine schwerere Hantel zumuten, wenn wir den ersten Schmerz überwunden haben.