Süddeutsche Zeitung

Friedensmärsche in Kriegszeiten:"Ich sitze auch nicht in einem Keller in der Ukraine"

Lesezeit: 4 Min.

Russland startet einen Angriffskrieg in der Ukraine. Doch viele in der Friedensbewegung drängen weiter auf Dialog mit Putin. Das ist mehr als ein Dilemma. Eindrücke vom Ostermarsch in Berlin.

Von Moritz Baumann, Berlin

Da steht sie nun, am Rand der Bühne, und muss sich anbrüllen lassen. "Das darf doch nicht wahr sein, holt den Typen da runter", keift eine Frau - rot gefärbtes Haar und ein regenbogenbunter "Umarmbar"-Button an der Jacke - in Richtung von Jutta Kausch. Die aber bleibt gelassen. "Muss ich mich davon jetzt distanzieren oder was?", antwortet sie.

Es ist ein sonniger Samstag. Auf dem Berliner Oranienplatz läuft gerade die Kundgebung des diesjährigen Ostermarsches. Taylan Çiftçi von der Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF) tritt ans Mikrofon. "Wir verurteilen den Einmarsch des Kremls aufs Entschiedenste", beginnt er seine Rede. Es ist dieser Satz, der die Frau mit dem Regenbogen-Button den Zorn ins Gesicht treibt. "Wir wissen, dass das ein Wirtschaftskrieg der USA ist", empört sie sich.

Sicherlich, das ist nur eine Momentaufnahme. Der Ostermarsch, einer von vielen in ganz Deutschland, verläuft insgesamt harmonisch. Und doch offenbart die Szene ein Dilemma. Jahrzehntelang wurde auf die Nato geschimpft, zuletzt bei den Demos gegen den Irak-Krieg 2003. Doch plötzlich ist der russische Präsident der Aggressor. Einige Ostermarschierer hinterfragen alte Gewissheiten, verurteilen den Angriffskrieg. Andere klammern sich an ihr Weltbild und suchen nach Rechtfertigungen. Am Samstag, beim Ostermarsch, prallen die Pole aufeinander.

"Das müssen wir aushalten", sagt Kausch, die seit 40 Jahren in der Berliner Friedenskoordination (Friko) aktiv ist.

Heute moderiert sie - nicht nur am Mikrofon, auch hinter den Kulissen. Dort brodelt es nämlich gewaltig. "Wir haben uns fast entzweit über diesen Aufruf", erzählt Kausch offen. Gemeint ist ein einseitiges Papier, das die Friko zum Ostermarsch veröffentlicht hat. "Die Waffen nieder!" steht darüber. Es brauche "Kompromissbereitschaft von beiden Seiten" und "vernünftigerweise eine neutrale Ukraine". Vernunft und Diplomatie statt Waffenlieferungen und Sanktionen. Am Ende stehen sieben Forderungen: Russland wird nicht erwähnt. Der Angriff des Kreml wird nicht verurteilt, dafür fällt die Kritik am 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr umso schärfer aus. Das Papier ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man sich einigen konnte.

Zwei Kilometer entfernt, unweit der Humboldt-Universität, ist Oleksandra Keudel fassungslos. "Das entsetzt mich, das macht mich traurig, aber auch wütend", sagt die Politikwissenschaftlerin, die in Lwiw aufgewachsen ist. Aktivistinnen aus der Ukraine und Syrien haben am Samstag eine Gegendemo organisiert. "Die Friedensbewegung schließt die Augen, damit sie ihre Agenda vorantreiben kann", kritisiert Keudel, eingehüllt in eine gelb-blaue Flagge.

Im Hintergrund schallt "Slawa Ukrajini", Ruhm der Ukraine, über den Platz. "Jeder, der mit so einem Kriegsverbrecher einen Kompromiss sucht, opfert unschuldige Menschen." Sie will ein Energieembargo und fordert mehr Waffen, auch Panzer. Jutta Kausch lehnt das ab.

Einen Tag zuvor, in einem Café am Checkpoint Charlie, dem bekanntesten Grenzübergang in Berlin, wo sich 1961 die amerikanischen und sowjetischen Panzer direkt gegenüberstanden, erzählt sie: "Ich glaube, dass die USA und die Nato die Schuld an dieser Entwicklung tragen." Militärmanöver an der russischen Grenze. Die Nato-Ostererweiterung. Das Weltmachtstreben der USA. Das alles sei eine Provokation gewesen. "Wir haben Putin immer als einen rationalen Mann erlebt, der außenpolitisch eine sehr offene und ehrliche Politik betrieben hat", sagt Kausch in dem Gespräch und verweist darauf, dass der Krieg nicht am 24. Februar begonnen hat. Es gebe eine Geschichte der Überheblichkeit des Westens, die nicht einfach ausgeblendet werden kann.

Doch rechtfertigt das den Angriffskrieg? "Das weiß ich nicht", sagt Kausch, die sowieso vieles hinterfragt. Ihr Lieblingswort: Narrative - und solche, die westliche Medien verschweigen. Das Morden in Butscha? "Die Bilder können nicht verifiziert werden", entgegnet sie. Doch genau das hat die New York Times getan: Videos und Satellitenbilder würden die russische Behauptung widerlegen, die Leichen seien erst nach Abzug der Truppen dort platziert worden. "Ich würde das erst mal anzweifeln. Wenn das stimmt, ist das schrecklich", sagt Kausch, die eine einseitige Berichterstattung beklagt. Sie bezieht ihre Informationen auch von Portalen wie Russia Today Deutschland, ein kremlnaher Fernsehsender.

Die Friedensbewegung, die in früheren Jahren viele Hunderttausend Menschen mobilisieren konnte, war nie eine homogene Gruppe. Doch dieses Jahr seien die Gräben besonders tief, erzählt Uwe Hiksch. Er sitzt im Bundesvorstand der Naturfreunde. Seit den Achtzigern geht er für Frieden auf die Straße. Doch viele Gewissheiten bröckeln gerade. "Die Rede von Scholz hat mich erschüttert", erzählt er. "Innerhalb von vier Minuten hat er alles weggeräumt, wofür ich seit 40 Jahren kämpfe." Der Kampf gegen Aufrüstung, gegen ein neues Wettrüsten. Das Eintreten für Dialog und Diplomatie, gerade auch in heißen Zeiten: Das bleibe aktuell, sagt Hiksch.

Warnungen vor einer Eskalation

Vor einigen Tagen hat der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff die Ostermarschierer in der Zeit als "fünfte Kolonne Putins" bezeichnet. Doch Hiksch ist kein Putinversteher. Die Naturfreunde haben das russlandfreundliche Papier der Friko jedenfalls bewusst nicht veröffentlicht. "Da fehlt die Empathie gegenüber der Ukraine", sagt er. Der Berliner Aufruf sei nicht repräsentativ, betont auch Kristian Golla in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Golla ist im Bonner "Netzwerk Friedenskooperative" aktiv, wo die Fäden der vielen Ostermärsche zusammenlaufen. Da ist sie wieder, die Zerrissenheit.

Die Demo zieht durch Kreuzberg, vorneweg ein schwarzer Dacia-Kleinwagen mit einer riesigen Friedenstaube auf dem Dach. Dahinter ein Flaggenmeer - von Gewerkschaften und der linken Aufstehen-Bewegung, bis zum Internationalistischen Bündnis und der Deutschen Kommunistischen Partei.

Mittendrin: Ute Gniewoß, eine Pfarrerin, die sich seit 30 Jahren in der Flüchtlingshilfe engagiert. Für sie ist klar: Putin ist der Angreifer. Doch den Dialog zwischen Ost und West jetzt als Irrtum darzustellen, das hält sie für "Quatsch". Sie warnt, wie viele an diesem Tag, vor einer militärischen Eskalation, die nicht mehr beherrschbar ist. Sie hadert dabei auch mit sich selbst, fühlt sich angesichts der blutigen Bilder aus der Ukraine hilflos. "Mich frustriert zutiefst, dass mir so wenig einfällt", sagt sie. Doch immer neue Waffenlieferungen, davon ist sie überzeugt, würden den Krieg nicht stoppen. "Ich sitze aber auch nicht in einem Keller in der Ukraine", sagt sie. "Dann würde ich auch anders reden."

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