Süddeutsche Zeitung

Olaf Scholz' Niederlage:Minister auf Abruf

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Von Cerstin Gammelin, Berlin

Die Enttäuschung sitzt tief. Bis lange in die Nacht saß Olaf Scholz am Samstagabend mit dem engsten Kreis von Vertrauten zusammen. Man hat gegessen und getrunken und beratschlagt. Das Angebot, das Scholz seiner Partei gemacht hatte, sich geduldig und mit Hilfe vieler Kompromisse wieder in die Wählergunst und ins Kanzleramt zu arbeiten, haben die Mitglieder der SPD mehrheitlich abgelehnt. In der Partei geht es für Scholz nicht weiter. Offen ist, ob er Bundesfinanzminister und Vizekanzler in der großen Koalition bleiben kann - und will.

Zunächst hat die Stichwahl zum Parteivorsitz erst einmal gar nichts mit den Regierungsämtern zu tun. Mittelbar aber schon. Sollte sich der Parteitag am Ende der Woche, auf dem das siegreiche Duo der Stichwahl endgültig als Parteichefs gekürt wird, dafür entscheiden, aus der Groko zu gehen, wäre Scholz nur Minister auf Abruf. Oder ist er das vielleicht jetzt schon?

Sollte der Parteitag dafür stimmen, den Koalitionsvertrag hart nachzuverhandeln und etwa zwölf Euro Mindestlohn als Bedingung für den Verbleib im Regierungsbündnis zu fordern, dürfte Scholz um die kurzfristige Nichterfüllbarkeit dieser Forderung wissen. Er kann dann im Amt bleiben und scheitern. Oder gehen.

Es ist nicht Scholz' Art, hinzuschmeißen - aber auch nicht, seine Ansichten grundsätzlich zu ändern

Und da ist auch noch die schwarze Null, die die neue Führung abschaffen will. Sollte der Parteitag ihr dabei folgen, dürfte Scholz, der einen ausgeglichenen Haushalt vorgelegt hat als Beweis dafür, dass Sozialdemokraten solide wirtschaften können, sich die Freiheit nehmen und noch auf dem Parteitag zurücktreten. Mindestens aber, so ist am Sonntag in Berlin zu erfahren, will Scholz bis zum Parteitag weitermachen. Solange, bis entschieden ist, ob der Parteisoldat Scholz noch eine stabilisierende Rolle spielen kann. Oder eher im Wege ist. Für alle, die ihn besser kennen, steht allerdings fest: So wenig, wie es Scholz' bedächtig stoischem Naturell entspricht, einfach mal die Brocken hinzuschmeißen nach einer Niederlage, so wenig wird er zu einem grundsätzlichen Wandel seiner Ansichten bereit sein.

Wie auch immer, die Gefahr besteht, dass die Bundesregierung nach einer Regierungschefin mit politischem Verfallsdatum nun auch noch einen Vizekanzler mit Ausstiegsdatum bekommt. Im Kreise der europäischen Mitgliedsländer könnte das den Einfluss der Bundesrepublik weiter schmälern. Was nutzt ein deutscher Finanzminister in Europa, der nicht entscheidungsfähig ist, wenn es etwa um die Einlagensicherung oder die Reform des Euro-Rettungsfonds geht?

Schon jetzt hat das Ergebnis der Stichwahl praktische Konsequenzen. Der Bundesfinanzminister lässt am Sonntag offen, ob er am kommenden Mittwoch und Donnerstag überhaupt zu den turnusmäßigen Beratungen der europäischen Finanzminister nach Brüssel fährt, die den EU-Gipfel in knapp zwei Wochen vorbereiten sollen. Der Grund: Parallel tagt in Berlin das erweiterte SPD-Präsidium, um die Halbzeitbilanz der Groko zu bewerten. Und auch sonst ist ja einiges los. Fährt Scholz nicht, sitzt für die größte Volkswirtschaft Europas lediglich ein Staatssekretär am Tisch. Ausgerechnet zum Amtsantritt der neuen EU-Kommission. Und ein halbes Jahr vor der deutschen EU-Ratspräsidentschaft.

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SZ vom 02.12.2019
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