Süddeutsche Zeitung

Niederlande nach dem Absturz von MH17:Gemeinsam gegen den Schmerz

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Bei der Trauerfeier für die Opfer von MH17 finden die Niederländer Stärke durch stille Geschlossenheit. Gleichzeitig sind sie tief verärgert über das anfängliche Stillhalten ihres Regierungschefs - und die Ohnmacht gegenüber Russland.

Von Thomas Kirchner, Amsterdam

Peter heißt der Mann, der sich den Spaziergang durch Amsterdam ausgedacht hat. Um die 50, graue Stoppeln im Gesicht, kaum Haare, Kippe hinters Ohr geklemmt.

Er saß am Sonntag mit einem Freund auf dem Balkon und dachte, dass mal was passieren sollte nach dem irrsinnigen Abschuss von MH17, der fast 200 seiner Landsleute das Leben kostete; dass man Trauer und Wut, all die Emotionen, die umherschwirrten, mal irgendwie auf den Punkt bringen müsste. Er setzte eine Facebook-Seite auf: Kommt zum stillen Umzug, Mittwoch 20 Uhr. Es traf sich, dass dieser Tag zum nationalen Trauertag erklärt worden war.

Und nun steht Peter auf dem Damplatz vor dem Königspalast, in Badeschlappen, und freut sich ein bisschen. Man klopft ihm auf die Schulter. Mit 100 bis 150 Leuten hatte er gerechnet, etwa 6000 waren dann gekommen, von jung bis alt. Fast zwei Stunden lang sind sie schweigend durch die Straßen gezogen, alle in Weiß gekleidet, mit einem Luftballon in der Hand.

Zwei Damen trugen eine weiße Taube aus Pappe, auf die hatte jemand "Ruhet sanft" geschrieben. "Das ist Amsterdam", sagt eine lächelnde Polizistin, die den Zug mit ein paar Kollegen gesichert hat, auf Fahrrädern natürlich. Besondere Vorkommnisse: keine. Eine Frau singt noch ein Lied, Tränen fließen, dann gehen die Menschen nach Hause.

Millionen Menschen stehen stumm und still

Es gab solche Märsche auch anderswo in den Niederlanden, sie gehörten zu den vielen Aktionen, die den 23. Juli 2014 zu einem einzigartigen und für das Land bedeutsamen Tag gemacht haben.

Als die Maschinen mit den Leichen von 40 Opfern an Bord um 16 Uhr in Eindhoven ausrollten, standen Millionen Menschen stumm und still, selbst die verdutzten Touristen auf dem Amsterdamer Flughafen reihten sich ein. Aller Verkehr ruhte, die Flügel der Windmühlen wurden auf Trauerschere gestellt.

Im Fernsehen die versteinerten Gesichter des Königspaars, des Premiers und seiner Minister auf dem Rollfeld, alles ohne Kommentar. Dieser Moment des gemeinsamen Besinnens machte das abstrakte Leid fassbar, erfahrbar, so konnte das verwirrte Land wieder zu sich selbst finden. Als hätten sich die Niederländer zu einer kollektiven Aussage verabredet: So machen wir das hier, würdig und recht. "Zusammen", titelten Zeitungen später schlicht, oder: "Der Trauertag hat den Toten die Würde zurückgegeben."

"Ganze Familien wurden bei dieser Tragödie ausgelöscht", sagt eine der Marschierenden in Amsterdam, "wir zeigen der Welt, dass es so nicht geht."

Anderswo wären vielleicht die Kirchen gefragt gewesen, den Menschen Halt und Trost in diesen Tagen zu liefern. Aber in der Rede des Königs zu den Angehörigen kamen die Worte Gott oder Glauben bezeichnenderweise nicht vor. In den säkularisierten Niederlanden muss der Staat im Notfall diese Rolle übernehmen, das spirituelle Vakuum füllen. Politik als Seelsorge.

Das Volk zürnte gegen Regierungschef Rutte

Man sollte den Berater befördern, der Ministerpräsident Mark Rutte am Dienstag die Idee mit dem Trauertag einflüsterte. Oder kam der Liberale selbst darauf, nachdem er tags zuvor mit Angehörigen gesprochen hatte?

Der Regierungschef war unter Druck geraten; nur ein paar mahnende Worte an Wladimir Putin hatte er geäußert, um das wichtigste Ziel nicht zu gefährden, die Rückführung der Leichname. Die waren tagelang auf dem zertrampelten Trümmerfeld von Grabowo verrottet. Und es gab diese Bilder von Separatisten, die Kuscheltiere der Opfer in der Hand hielten, die manche Niederländer kochen ließen vor Wut.

Im Netz und in den Medien kam ätzende Kritik auf an Ruttes "Schlappheit". Eingreifen, Spezialkräfte in die Ukraine, Wirtschaftsbeziehungen kappen - solche Forderungen. Man kramte das Massaker von Srebrenica 1995 hervor, das "Angsthasen" in Gestalt der holländischen Blauhelme erst möglich gemacht hätten.

Auch vernünftigere Menschen wie der einflussreiche Kolumnist Bas Heijne forderten, es sei nun Zeit, Putin mannhaft gegenüberzutreten. Allzu lang hatte man in Den Haag an der Illusion von vermeintlich besonderen Beziehungen zu Russland festgehalten und über allerlei Ungehörigkeiten hinweggesehen: die Prügel zum Beispiel, die ein niederländischer Diplomat in Moskau bezog, vermutlich aus Rache für die Polizei-Befragung eines russischen Diplomaten, der in Den Haag betrunken sein Kind an den Haaren durch den Garten gezogen hatte.

Oder die Festnahme niederländischer Greenpeace-Aktivisten, die einer russischen Öl-Plattform zu nahe gekommen waren und monatelang um ihre Freiheit bangen mussten. Von Putins Haltung zu Schwulen ganz zu schweigen, die in den toleranten Niederlanden kein Verständnis findet.

Tatsächlich war das "russisch-niederländische Jahr" 2013, mit dem "400 Jahre Freundschaft" zelebriert werden sollten, zu einem Desaster geraten. Trotzdem reiste die Staatsspitze zu den Winterspielen nach Sotschi, und König Willem-Alexander trank im holländischen Haus ein Bierchen mit dem Kremlchef.

Ein feindlicher Akt gegenüber Russland könnte Folgen haben

Nun also Schluss mit dem Schmusekurs? Anwälte der Vernunft warfen ein, dass die Niederlande eigentlich kaum noch nennenswertes Militär hätten, weder Panzer noch eine ordentliche Elitetruppe. Und dass die Niederlande in der EU der wichtigste Handelspartner Russlands seien. Allein im Jahr 2012 investierten niederländische Unternehmen 53 Milliarden Euro in die russische Wirtschaft. Die Niederlande schicken sich gerade an, zur nordeuropäischen Drehscheibe für Gas aus Russland zu werden. Ein spontaner feindlicher Akt könnte da gravierende wirtschaftliche Konsequenzen haben.

In dieser Lage mag sich Rutte wie jene Figuren in Musils "Mann ohne Eigenschaften" gefühlt haben, die vergeblich versuchen, eine "nationale Aktion" mit Inhalt zu füllen. "Es ist mir nichts eingefallen, aber es muß etwas geschehn", sagt Graf Leinsdorf.

Die Wende für das Ansehen der Regierung in der Öffentlichkeit brachte schließlich der emotionale Auftritt von Außenminister Frans Timmermans vor dem UN-Sicherheitsrat, der plastisch an die letzten Momente der Passagiere im Flugzeug erinnerte und vom "Loch im Herzen der niederländischen Nation" sprach, das der Absturz gerissen habe. In perfektem Oxford-Englisch, wie manch einer stolz notierte, der bis dahin über Timmermans' legendäre Vielsprachigkeit gelacht hatte.

Plötzlich war es klug, den kühlen Kopf bewahrt zu haben

Allenthalben wird nun, da der Trauertag ein solcher Erfolg war, das Loblied auf die Zurückhaltung gesungen. Der Beginn des Ersten Weltkriegs oder die Art, wie George W. Bush 2001 auf die Anschläge reagiert habe, lehrten, dass Politiker einen "kühlen Kopf" behalten müssten, schrieb ein Kommentator. "Ich muss unseren Politikern ein Kompliment machen", sagt der Psychologe René Diekstra, "sie haben die richtigen Prioritäten gesetzt." Selbst einer der bissigsten Rutte-Kritiker, der Schriftsteller Sidney Vollmer, sagt jetzt, er sei "vorsichtig optimistisch", dass sein Land doch noch zu einer angemessenen Reaktion auf den Abschuss finde.

Vollmer hatte in einem viel zitierten Blog-Eintrag mit brutaler Ironie von der "Inspiration" geschwärmt, die Ruttes "Führungsstärke" in diesen Zeiten liefere. Noch immer glaubt Vollmer aber, dass man frühzeitig Niederländer zur Absturzstelle hätte schicken müssen und harte wirtschaftliche Konsequenzen unumgänglich seien: "Dann ziehe ich mir eben einen Extra-Pulli an, wenn die Gaspreise steigen."

Gut möglich, dass die Wünsche in Erfüllung gehen. Bei den Vereinten Nationen setzt sich sein Land gerade dafür ein, eine internationale Polizeitruppe zu bilden, die die Ermittler an der Absturzstelle schützen soll. Und es sieht so aus, als könnten sich die Europäer zu einschneidenden Sanktionen durchringen.

Für die Masse der Niederländer wird der Alltag schnell zurückkehren. Was bleibt, ist der Schmerz der Angehörigen. "Jetzt fühlen sie sich noch getragen von der Allgemeinheit, aber bald werden sie allein sein mit ihrer Trauer", sagt Psychologe Diekstra. "Dann wird ihnen die Sinnlosigkeit ihres Todes bewusst und die Unmöglichkeit, etwas daran zu ändern." Sie werden jemandem die Schuld geben wollen an ihrem Leid. Aber wem?

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Quelle:
SZ vom 25.07.2014
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