Süddeutsche Zeitung

Nato:Zerreißprobe für das Bündnis

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Ankara ist für viele Mitglieder ein schwieriger, aber auch ein äußerst wichtiger Partner.

Von Matthias Kolb, Paul-Anton Krüger, Brüssel/München

Es ist ein fast unmöglicher Spagat, der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erwartet. An diesem Freitag trifft er in Istanbul Recep Tayyip Erdoğan - den Staatschef eines Nato-Mitglieds, dessen völkerrechtlich zumindest äußerst fragwürdiger Angriff auf Syrien von vielen anderen Staaten der Allianz verurteilt wird. Frankreich, Deutschland und Großbritannien haben eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates beantragt. US-Präsident Donald Trump eiert zwar noch herum und versucht vergeblich dem Eindruck entgegenzutreten, er habe Erdoğan einen Freibrief für den Einmarsch gegeben. Im Senat aber bereiten Republikaner und Demokraten in seltener Eintracht Sanktionen gegen die Türkei vor, die Trump vielleicht nicht einmal per Veto verhindern kann. Sie drohen gar mit einer Initiative, die Nato-Mitgliedschaft der Türkei auszusetzen.

Die Türkei erwartet, dass die Nato als Bündnispartner "an unserer Seite steht"

Als Generalsekretär muss Stoltenberg die Interessen aller 29 Nato-Mitglieder im Blick haben - auch die der Türkei. So hörte sich dann auch die Erklärung an, die er Mittwochabend in Rom verlas. "Unser Alliierter Türkei" stehe an vorderster Front der Syrienkrise und habe "legitime Sicherheitsinteressen": das Land sei Opfer von Terroranschlägen geworden und habe Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Eine Rechtfertigung des Angriffs ist dies kaum, anders als türkische Medien glauben machen wollen. Stoltenberg rief die Türkei auf, alles zu vermeiden, was "die Region weiter destabilisieren, Spannungen verstärken und noch mehr menschliches Leid verursachen" könne. Er zähle darauf, dass die Türkei "zurückhaltend" agiere und sicherstelle, dass "ihr Vorgehen in Nordsyrien verhältnismäßig und maßvoll" sei.

Aus der Türkei sieht er sich mit klaren Forderungen konfrontiert. Parlamentspräsident Mustafa Şentop sagte, die Türkei erwarte, dass die Nato als Bündnispartner "an unserer Seite steht". Die Allianz steuert auf eine Zerreißprobe zu, in der Ankara der Empörung vieler Alliierter Handfestes entgegenhalten kann: Das Land, seit 1952 Nato-Mitglied, ist wegen seiner strategischen Lage zwischen Nahem Osten und Schwarzem Meer wichtig. Als muslimischer Staat gab die Türkei Nato-Missionen in Afghanistan oder Libyen wichtige politische Legitimität. Und operativ hätte ein Ende der Mitgliedschaft enorme Folgen, sagt Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität München: "Die nukleare Teilhabe müsste neu organisiert und der Luftwaffenstützpunk İncirlik aufgegeben werden. Auch der Luftraum über der Türkei könnte wohl nicht mehr genutzt werden, was die Handlungsfähigkeit der USA enorm einschränken würde, etwa in Bezug auf Irak."

In Washington scheint das wenig Eindruck zu machen: Lindsey Graham, republikanischer Senator, sonst Trump treu ergeben, legte mit seinem demokratischen Kollegen Chris Van Hollen einen Sanktionskatalog vor, der es in sich hat: Erdoğans Vermögen und das einiger Minister würde eingefroren, jede Unterstützung für die türkische Armee untersagt, was Auswirkungen auf deren Operationsfähigkeit haben könnte. Dazu kämen Visabeschränkungen gegen Erdoğan und die türkische Führung. Das würde ihn auf die gleiche Stufe mit den Iranern stellen - und die gelten Washington ja als Feinde.

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SZ vom 11.10.2019
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