Süddeutsche Zeitung

Neujahrsansprache von Merkel:Die letzte ihrer Art

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In ihrer 16. Neujahrsansprache nennt die Kanzlerin die Pandemie eine "Jahrhundertaufgabe". Sie gedenkt der Covid-19-Toten und verurteilt Leugner des Virus. Trotz des Impfstarts dämpft sie die Hoffnung auf ein schnelles Ende der Coronakrise.

Von Nico Fried, Berlin

Angela Merkel hat als Kanzlerin bislang 15 Neujahrsansprachen gehalten. Sie musste auf Krisen eingehen, die die Welt veränderten: "2014 wird als ein Jahr in Erinnerung bleiben, das anders verlaufen ist, als wir uns das zu Silvester vor einem Jahr vorstellen konnten", sagte sie zum Beispiel nach Beginn des Ukraine-Konflikts. Sie musste Tod und Trauer aufnehmen wie 2016 nach mehreren Terroranschlägen, einem davon kurz vor dem Jahreswechsel in Berlin: "2016 war ein Jahr schwerer Prüfungen." Sie musste wirtschaftliche Krisen bedenken wie Ende 2009 nach dem Kollaps des Finanzsystems: "Ich sage es sehr offen: Wir können nicht erwarten, dass der Wirtschaftseinbruch schnell wieder vorbei ist."

Die Kanzlerin hat sich in einer Neujahrsansprache auch schon mit einem Appell direkt an die Deutschen gewandt, als sie 2014 mit Blick auf die Pegida-Bewegung mahnte: "Deshalb sage ich allen, die auf solche Demonstrationen gehen: Folgen Sie denen nicht, die dazu aufrufen!" Aber sie konnte auch Solidarität würdigen wie nach der Flutkatastrophe 2017, als sie von einer zweiten Welle "ganz anderer Art" sprach: "eine überwältigende Welle der Hilfsbereitschaft". Und sie durfte schon Wissenschaftler feiern wie 2008 nach zwei Nobelpreisen für deutsche Forscher: "Nicht selten waren es bahnbrechende Ideen deutscher Tüftler, die die Welt verändert haben."

2020 muss das alles in eine einzige Ansprache.

Der voraussichtlich letzte Auftritt der Kanzlerin zum Jahreswechsel steht im Zeichen des Coronavirus. "2020 ist etwas über uns gekommen, womit die Welt nicht gerechnet hatte", so Merkel. Das Virus dringe "in unsere Körper und in unsere Leben ein". Merkel nennt die Pandemie eine "Jahrhundertaufgabe" und dankt den Bürgern für ihre Disziplin. Sie würdigt die vielen Helfer im medizinischen und anderen Bereichen, die über sich hinausgewachsen seien. Und sie zählt die staatlichen Unterstützungen "in nie da gewesener Höhe" auf, um der Wirtschaft zu helfen.

Es seien "schwere Zeiten für unser Land", sagt die Kanzlerin

Merkel erinnert auch an die bislang mehr als 30 000 Verstorbenen. Allein am Mittwoch meldete das Robert-Koch-Institut 1129 Todesfälle in Verbindung mit dem Virus binnen 24 Stunden, mehr als je zuvor. Merkel spricht von der Trauer der Hinterbliebenen, für die es sich bitter anfühlen müsse, dass manche die Gefahr noch immer leugneten, und denen gegenüber Verschwörungstheorien "zynisch und grausam" seien.

Den unerlässlichen Teil mit der Zuversicht widmet die Kanzlerin vor allem den ersten Geimpften. Die Hoffnung trage ihre Gesichter. Auch sie werde sich impfen lassen, "wenn ich an der Reihe bin". Merkel würdigt die Biontech-Geschäftsführer Uğur Şahin und Özlem Türeci sowie ihre Mitarbeiter aus 60 Nationen, die den ersten Impfstoff entwickelten. Aber sie dämpft auch die Erwartung, dass die Krise schnell enden werde. Es seien "schwere Zeiten für unser Land", so Merkel. "Und so wird es auch noch eine ganze Weile bleiben." Die Kanzlerin wird wissen, warum.

Schon bevor Merkel ihre Ansprache am Mittwochabend aufzeichnete, ließ Gesundheitsminister Jens Spahn durchblicken, dass von der nächsten Sitzung der Bundesregierung mit den Ministerpräsidenten am 5. Januar kein Ende der Beschränkungen zu erwarten ist: Er sehe nicht, "wie wir in dieser Situation zurückkehren können in den Modus vor dem Lockdown", sagte Spahn.

Den Impfstart hält der Minister hingegen für "gelungen". Doch im Laufe des Mittwochs wurde klar, dass die nächsten Dosen auf sich warten lassen. Eine angekündigte Lieferung falle für einige Bundesländer ersatzlos aus, hieß es zunächst, ehe das Ministerium dann nach Verhandlungen mit Biontech eine neue Lieferung wenigstens für den 8. Januar ankündigte.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Auftritt Merkels, den unter anderem ARD und ZDF am Silvesterabend ausstrahlen, ihre letzte Neujahrsansprache ist. Nur wenn sich nach der Bundestagswahl am 26. September eine Regierungsbildung ähnlich lange hinziehen würde wie 2017, bliebe Merkel über den Jahreswechsel geschäftsführend im Amt.

Wenn es so käme, könnte sie sich an zwei früheren Ansprachen orientieren. Läuft es schlecht und die Politik vermag zum Beispiel das Impftempo nicht zu steigern, bietet sich ein Satz von Ende 2018 an, als Merkel nach dem Fehlstart ihrer dritten großen Koalition formulierte: "Ich weiß, viele von Ihnen haben sehr mit der Bundesregierung gehadert." Läuft es hingegen gut, dürfte der erste Satz von Ende 2010 der Wirklichkeit zehn Jahre später sehr nahekommen: "Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, lassen Sie mich ganz offen sein: Als ich vor einem Jahr genau hier saß und zu Ihnen sprach, da habe ich bei aller Zuversicht durchaus auch mit gemischten Gefühlen in die Zukunft geschaut."

Aber wahrscheinlich sitzt Merkel zu Hause und schaut ihrem Nachfolger zu.

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