Süddeutsche Zeitung

Mecklenburg-Vorpommern:Die AfD wildert in Merkels Terrain

Lesezeit: 4 min

Im Wahlkreis der Bundeskanzlerin in Mecklenburg-Vorpommern befürchten CDU und SPD bei der Wahl einen Denkzettel. Der Grund: "die Flüchtlingssache".

Von Peter Burghardt, Stralsund

Auf die Wildschweine ist noch Verlass im Revier der Bundeskanzlerin. "Wir grillen ja überall Wildschwein", sagt Olaf Micheel, auch Angela Merkel und George W. Bush griffen bei ihm zu. Micheel sitzt in seinem Gasthaus "Zu den Linden", gleich muss er zum nächsten Grilltermin. Sechs Wildschweine hat der Jäger und Wirt aus Trinwillershagen fürs Schlossgartenfest in der Nachbarschaft erlegt, 40 bis 50 sind es im Jahr. Viel hatten die Parteifreunde Merkel und Micheel bei ihm schon zu feiern, doch jetzt wird Mecklenburg-Vorpommern kompliziert. "Die AfD macht richtig Stimmung", berichtet Micheel im T-Shirt am Mittagstisch. "Wir als CDU werden mächtig zu kämpfen haben."

Dabei teilen Provinzgastronom und Weltpolitikerin bisher eine Erfolgsgeschichte, die über gegrillte Wildschweine hinausgeht. In der DDR war Trinwillershagen zwischen Rostock und Stralsund ein sozialistisches Vorzeigedorf, gerne besucht von Walter Ulbricht und später Egon Krenz. Nach der Wende wurde es ein Fixpunkt von Angela Merkel, obwohl sie in der Uckermark beheimatet ist, also im Bundesland Brandenburg.

Die damalige Nachwuchshoffnung Merkel vertrat die CDU bereits zur ersten gesamtdeutschen Wahl Ende 1990 für den Bundestagswahlkreis 15 Vorpommern-Rügen/Greifswald, wo Trinwillershagen mit seinen 1200 Bewohnern und ehemaligen Champignonzuchthallen liegt. In diesem spärlich besiedelten Landstrich war Platz, der frühere Verkehrsminister Günther Krause hatte vermittelt. Seither gewinnt sie da bei jeder Wahl ihr Direktmandat, sieben Mal in Folge, zuletzt 2013 mit 56,2 Prozent der Stimmen. Ihr 25. Jubiläum als Abgeordnete beging sie im Dezember 2015 natürlich im Festsaal von Olaf Micheel.

Micheel ist ebenfalls seit einem Vierteljahrhundert auf Kurs, das gelang nicht allen früheren Staatsbediensteten dieser strukturschwachen Gegend. Im April 1991, mit 21, übernahm er die Gaststätte, Pension und Kegelbahn "Zu den Linden", auch genannt "Kulturhaus". Die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft "Rotes Banner", bei der er zuvor im Sold stand, war soeben geschlossen worden. Später trat der Unternehmer der CDU bei - und erlebte, wie die Kanzlerkandidatin Merkel 2005 in seinem Salon für den Bundestag nominiert wurde. 2006 lud die Bundeskanzlerin Merkel dann US-Präsident George W. Bush zum Barbecue bei Micheel ein, seitdem gibt es hier Wildschwein à la Bush sowie die Bushterrasse. Die Fotos, Dankesbriefe und Urkunden aus dem Weißen Haus können in einer Vitrine besichtigt werden. Hinten an der Hauptstraße allerdings hängen vor allem Plakate von AfD und NPD. Sie sehen sich mit ihren Parolen wie "Asylchaos beenden" oder "Familien brauchen Sicherheit" teilweise zum Verwechseln ähnlich.

Die gleichen Transparente kleben an den Laternen etlicher Dörfer auf der Insel Rügen und anderswo in diesem schönen Beritt mit seinen Küsten, Seen, Alleen, Wildschweinwäldern und Hansestädten. Was geschieht im Merkel-Terrain, wenn Mecklenburg-Vorpommern am 4. September wählt?

"Wen würdest du wählen?", fragt der Wirt seinen Gast. "Ich wähl' nicht."

Für die NPD dürfte es knapp werden mit dem erneuten Wiedereinzug in den Landtag, außerdem läuft ein Verbotsantrag beim Bundesverfassungsgericht. Der "Alternative für Deutschland" dagegen werden nach Umfragen vom Juli 19 Prozent zugetraut, der CDU 25 und der SPD 22 Prozent. CDU-Kreistagsmitglied Micheel befürchtet, dass die Flüchtlingssache "der CDU und der SPD auf die Füße fällt". Derzeit regiert auch in Schwerin eine große Koalition, unter Führung von SPD-Ministerpräsident Erwin Sellering. Doch die Stimmung kippt, das merkte Angela Merkel nach der Kölner Silvesternacht bereits beim Neujahrsempfang Mitte Januar in Micheels Lokal.

"Wen würdest du wählen? AfD?", fragt Olaf Micheel nun einen Gast in seiner Stube. "Ich wähl' gar nicht", erwidert der und schimpft auf Politiker als solche.

Auf die Filiale der Bundeskanzlerin verweist ein unauffälliges Metallschild in der Fußgängerzone von Stralsund, eine halbe Autostunde von Trinwillershagen entfernt. "Bundestagsabgeordnete der CDU Dr. Angela Merkel", steht da zwischen zwei Läden. In den umfangreichen Merkel-Bundestagswahlkreis passen mehrere Landtagswahlkreise - im Landtagswahlkreis 26, Zentrum der Merkel-Basis und eine der ärmeren Regionen Deutschlands, bemüht sich Ann Christin von Allwörden für die CDU um ein Direktmandat.

Bei ihrer Ernennung bezwang sie ihren Vorgänger, der daraufhin aus der Partei austrat und für die Bewegung "Bürger von Stralsund" antritt. Frau von Allwörden ist Polizistin und erst 37, das soll von Vorteil sein, ihr Motto auf dem Wahlplakat: "Mit Sicherheit!" Sie erzählt in einem Hotel am Ostsee-Sund, dass sie als Beamtin auch für Einsätze gegen Amokläufer geschult worden sei. Die Polizei brauche mehr Personal, das schon, dennoch: "Wir haben die Lage im Griff."

Angela Merkel hat Beistand zugesichert und wird am 30. August in Stralsund mit ihr werben, in ihrem Bezirk will die oberste Wahlkämpferin mehrfach auftreten. Es geht auch für Frau Merkel um mehr als ums Prestige. Ihr Einsatz ehrt Ann Christin von Allwörden, die "komplett" hinter der Kanzlerin stehe. Andererseits spürt sie den Druck im Kanzlerinnenwahlkreis. "Ich habe oft gehört, dass das n' Denkzettel werden soll, so 'ne Protestwahl", sagt sie, schwarze Haare, graues Kostüm. "Zu verlieren wäre dramatisch." Der Aufschwung der Rechtspopulisten und die möglichen Folgen machen ihr Sorgen, "man darf das alles nicht unterschätzen". Prognosen schrieben ihr zuletzt 28 Prozent zu - sieben Prozent mehr als Matthias Laack, AfD.

Das könne sich ändern, "wenn die CDU vier Prozent weniger bekommt und ich vier Prozent mehr", errechnet Laack am Hafen, am Horizont schimmert Hiddensee. Laack war Kapitän und ist nautischer Sachverständiger. Er war mal in der CDU und hat für die FDP geworben. In die AfD trat er am Tag des letzten Wahlsiegs von Angela Merkel 2013 ein. Er war dabei, als die AfD auf dem Stralsunder Marktplatz rief: "Merkel muss weg!" Er schätzt Frauke Petry.

Matthias Laack, 67, wettert gegen CDU, SPD, Multikulti, Russlandsanktionen, Niedriglöhne, Arbeitslosigkeit, den Verkauf der Stralsunder Volkswerft an einen Konzern aus Malaysia. Der Terror, der vor Segelbooten fern wirkt? Die Flüchtlinge, die in Stralsund und Umgebung kaum auffallen? "Die Menschen sind beunruhigt, das ist einfach so", sagt Laack. Die Politik von CDU und SPD sei "wie eine Steilvorlage, ich muss sie nur noch ins Tor hauen."

"Leute, die AfD wählen, erwarten nichts von der AfD."

Klar, mit Argumenten müsse man die AfD stellen, seufzt Heike Carstensen aus der SPD in der renovierten Altstadt. Sie debattiert, wo immer sie kann. Bibliothek, Bildung, Windräder, Breitbandinternet, Altersarmut, Pflegeheime, Renten, Steuern, Brexit. "Das Problem: Leute, die AfD wählen, erwarten nichts von der AfD. Die erwarten nur, dass wir eins auf den Deckel kriegen." 14 Prozent werden der SPD-Vertreterin in Stralsund zugeschrieben.

Die promovierte Kunsthistorikerin Carstensen kam aus Schleswig-Holstein nach Mecklenburg-Vorpommern und landete wegen einer Annonce bei den personalsuchenden Sozialdemokraten. Viele ältere Menschen aus dem Westen kommen, viele jüngere Menschen aus dem Osten gehen. Sie kennt den Frust im Weltkulturerbe Stralsund. Hier herausgeputzte Plätze, die schicke Rügen-Brücke, das Meeresmuseum Ozeaneum (von Einheimischen "Klorolle" genannt). Dort das Viertel Grünhufe mit Plattenbauten und Hartz IV, wo Schulen, Supermärkte und Busse fehlen.

Vor Angela Merkels Büro in Stralsund lag im Mai ein Schweinskopf mit beleidigender Botschaft, Absender unbekannt. Olaf Micheel dreht derweil weiter Wildschweine über seinem selbstgebauten Grill und empfängt seine Parteifreundin Merkel immer wieder gerne bei sich an der Bushterrasse in Trinwillershagen.

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Quelle:
SZ vom 09.08.2016
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