Süddeutsche Zeitung

30 Jahre Mauerfall:"Für mich war sofort klar: Hier will ich nicht bleiben"

Lesezeit: 4 min

Am 9. November 1989 feierten viele Deutsche die Grenzöffnung - Anne Hahn erlebte diesen Tag in der DDR in Haft. Ein Gespräch über ihre Entlassung unter neuen Verhältnissen, enttäuschte Erwartungen und ängstliche Männer.

Von Hannah Beitzer, Berlin

Eine junge Frau, die in der Punk-Szene unterwegs war, durfte in der DDR nicht studieren: Mit 22 Jahren versuchte Anne Hahn im Jahr 1989 deswegen, über die Sowjetrepublik Aserbaidschan, Iran und die Türkei nach Westdeutschland zu fliehen. Sowjetische Grenzer nahmen sie fest und führten sie in die DDR zurück. Dort wurde sie erst im berüchtigten Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen inhaftiert. Den Mauerfall erlebte sie in Haft in Hohenleuben bei Gera. 2005 erschien ihr autobiografischer Roman "Dreizehn Sommer", der 2014 unter dem Titel "Gegenüber von China" neu aufgelegt wurde. Hahn hat außerdem mehrere Sachbücher zu subkulturellen Bewegungen in der DDR veröffentlicht.

SZ: Frau Hahn, wie haben Sie den 9. November 1989 erlebt?

Hahn: Ich saß im Gefängnis und habe Taschentücher für den Export umrandet. Wir haben dort überhaupt nicht mitbekommen, was passiert ist. Erst am nächsten Tag, beim Frühstück riefen uns die Kriminellen hämisch zu: "Die Mauer ist gefallen und ihr sitzt immer noch hier!" Erst sagten wir noch: "Verarscht uns nicht." Aber dann haben wir gemerkt, dass auch die Wärter unruhig waren. Und schließlich haben wir begriffen, was passiert war.

Was ging Ihnen durch den Kopf?

Die Tragweite war uns erst einmal überhaupt nicht bewusst. Ich war aber ziemlich wütend, weil ich dachte: Jetzt kann jeder Idiot in den Westen und ich, die dafür so viel riskiert habe, sitze immer noch hier. Ich rechnete da eigentlich schon jeden Tag mit meiner Entlassung, am 27. Oktober war ja schon eine Amnestie für die politischen Häftlinge verkündet worden.

SZ: Wie ging es weiter?

Wir wurden im Gefängnis jeden Tag weniger. Nach und nach wurden alle entlassen, nur ich nicht. Das lag wohl daran, dass ich ziemlich aufmüpfig war, die Großmäuler haben sie am längsten warten lassen. Ich habe es zum Beispiel nie eingesehen, die Arbeitsnorm zu erfüllen. Dann wurde irgendwann ein Mädchen entlassen, mit dem ich mich ein bisschen angefreundet hatte. Der habe ich die Telefonnummer meiner Mutter eingebläut, damit sie anruft und sagt, dass ich immer noch zu Unrecht festgehalten werde. Meine Mutter hat dann das Rathaus in Magdeburg besetzt, irgendwann hat sich der Bürgermeister von Magdeburg tatsächlich für meine Entlassung eingesetzt. Am 17. November kam ich raus.

Wie war es, als Sie aus dem Gefängnis kamen?

Es war ein großer Schock. Ich hatte nach meiner Verhaftung damit gerechnet, irgendwann vom Westen freigekauft zu werden und meine Heimat nie wieder zu sehen. Stattdessen kehrte ich zurück nach Hause. In eine Stadt, die ich nie hatte wiedersehen wollen, wo uns so viel Hass und Häme begegnet war. Mein kleiner Bruder war damals 17, er kam gerade mit dem Moped aus Braunschweig zurück. Unvorstellbar war das. Für mich war allerdings sofort klar: Hier will ich nicht bleiben. Meine engen Freunde waren weg, in den Ämtern saßen noch die gleichen Kleingeister wie zuvor.

Wie ging es weiter?

Der Kumpel, mit dem ich zusammen den Fluchtversuch unternommen hatte, war auch einige Tage zuvor entlassen worden. Wir sind dann gemeinsam nach Unna in ein Auffanglager gegangen. Es war vollkommen irre, alles überfüllt, die Leute schliefen in Turnhallen, in die das THW Betten gestellt hatte. Ich wurde in ein Aufnahmelager nach Mönchengladbach weitergeschickt, da war gerade eine Gruppe frisch entlassener krimineller Männer angekommen. Ich hatte keine Lust auf eine zellenähnliche Situation zu sechzehnt mit Knackis in einem Raum und habe die ganze Nacht mit den Jungs vom THW Karten gespielt. Am nächsten Tag habe ich mich selber entlassen und bin zu meinen Kumpels gefahren, die in Köln untergekommen waren.

Von dort aus ging es weiter nach Freiburg im Breisgau. Dort habe ich mit einer Handvoll Freunde in der Wohnung der Erbtante eines unseres Magdeburger Kumpels gewohnt, die kurz zuvor ins Altersheim gekommen war. Eine Villa im Burschenschaftenviertel, mit Fahnen draußen dran, und wir mittendrin. Das waren echt verrückte Zeiten, wir haben uns alle möglichen Dinge ausgemalt, die wir machen könnten: Öltanks putzen in Libyen? Au-pair in Frankreich? Das Leben im Westen war zu Beginn allerdings sehr frustrierend für mich.

Warum?

Im Westen hat mich keiner erwartet. Das hatte ich mir in meiner Haft natürlich immer ganz anders ausgemalt, ich hatte geglaubt, dass ich als politischer Flüchtling dort willkommen sein werde. Stattdessen musste ich erst einmal nachweisen, dass ich überhaupt Deutsche bin. Mein Vater ist im Sudetenland geboren, wo meine Mutter oder gar ich geboren wurden, hat niemanden interessiert. Das muss man sich mal vorstellen! Auch mein Abitur und meine Ausbildung zur Krankenschwester wurden nicht anerkannt. Nach zwei Monaten bin ich dann nach Köln gezogen, dort hat es geklappt mit der Anerkennung, ich habe als Krankenschwester gearbeitet und studiert. Aber richtig angekommen bin ich da nie.

Woran lag das?

Unter anderem an den Männern! Ich war eine junge Frau, ich wollte mich verlieben! Aber ich habe allen mit meiner Flucht- und Haftgeschichte nur Angst gemacht. Dann bin ich nach Berlin gezogen, in den Prenzlauer Berg an der Grenze zum Wedding. Berlin ist meine echte Heimat geworden, eine Stadt eben, die beides ist, Ost und West. Meine Geschichte habe ich lange nicht aufgearbeitet, ich hatte gar keine Lust auf das Thema.

Ich habe ein paar Jahre darüber nachgedacht und erst relativ spät, 2005, meinen ersten Roman veröffentlicht, in dem ich meine Geschichte verarbeitet habe. Und ich bin viel an Schulen unterwegs, spreche mit jungen Menschen über meine Erfahrungen in der Diktatur. Das macht mir große Freude. Sorgen mache ich mir allerdings, wenn ich sehe, wie in Bundesländern wie Sachsen und Thüringen über Jahre linke und antirassistische Strukturen unterdrückt, ein rechter Mainstream aufgebaut wurde. Da muss man sich nicht wundern, dass heute dort der Rassismus aufblüht, die AfD so hohe Wahlergebnisse bekommt. Es ist außerdem sehr clever, wie die AfD das Thema Wende, die Enttäuschungen vieler Menschen, für sich instrumentalisiert.

Wie blicken Sie heute auf den Mauerfall?

Mit viel Wehmut. Es war eine große Aufbruchsstimmung damals, alle haben sich auf die Zukunft gefreut, und das nicht nur in Deutschland. Der ganze Ostblock war ja zusammengebrochen, man dachte: Jetzt fällt ein Diktator nach dem anderen. Und schauen Sie sich heute die Welt an: Überall erstarkt der Populismus, es gibt furchtbare Kriege. Und in Europa ziehen wir neue Grenzen hoch, lassen Menschen im Meer ertrinken. Ich denke immer: Die haben viel bessere Gründe zu fliehen als ich. Aber wir lassen sie nicht rein. Das finde ich schlimm.

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