Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge in Litauen:Schleuser in Minsk

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Litauen greift seit Wochen Hunderte Iraker und Afrikaner an der Grenze zu Belarus auf. Die Regierung in Vilnius glaubt, der Nachbar will sich rächen.

Von Frank Nienhuysen, München

Litauen beklagt mit zunehmender Dringlichkeit, dass sein Nachbar Belarus gezielt Migranten illegal über die Grenze schleuse, um den baltischen Staat für die EU-Sanktionen gegen Minsk zu bestrafen. Im gesamten vergangenen Jahr 2020 haben litauische Grenzbeamte 81 Menschen aufgegriffen, seit Beginn dieses Jahres bis zu diesem Mittwoch sind es fast 1800, allein im Juli bisher 1100. Am Donnerstag waren es 107. Die litauische Regierung hat den Notstand verhängt, und weil Außenminister Gabrielus Landsbergis vom belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko keine Hilfe erwarten kann, ist er direkt in den Irak geflogen.

Dort kommen die meisten der in Litauen festgenommenen Migranten her. Erfolgreich ist Landsbergis in Bagdad nicht gewesen. Sehr gedämpft war seine Stimmung, als er bei der Rückkehr sagte, die irakische Regierung sei "sehr vorsichtig, was eine Rückkehr ihrer Staatsbürger betrifft". Die größte Hilfe, die Bagdad anbiete, wäre es, bei der Identifikation der Flüchtlinge zu helfen.

Landsbergis wirft der belarussischen Führung vor, sie benutze Iraker, "um mein Land und die Europäische Union unter Druck zu setzen". Mehrmals in der Woche gibt es Flüge von Bagdad nach Minsk. "Wir haben den Eindruck, dass Irakern eine einfache Reise nach Europa versprochen wird und sie dann in einem Wald enden", sagte der Außenminister seinem irakischen Kollegen nach einem Bericht von Radio Free Europe/Radio Liberty. "Sie werden von Schleusern angelogen und geben viel Geld aus."

Die litauische Ministerpräsidentin Ingrida Šimonytė erklärte, dass Belarus den Migranten aus dem Irak über Reiseagenturen günstige Flüge nach Minsk anbiete. Dies würden Dokumente belegen, die bei einem der Flüchtlinge gefunden worden seien. Die meisten von ihnen hätten hingegen keinerlei Ausweise bei sich.

Auch aus Istanbul fliegen Migranten ein

Neben Bagdad hält Litauen den Weg von Istanbul nach Minsk - es gibt mehrere Flüge täglich - für den zweiten Routenstrang, über den Migranten den Weg in die EU finden - mit Billigung aus Belarus. Viele von ihnen stammen aus dem Nahen Osten und aus Afrika, aus dem Kongo etwa, Kamerun, Mali, Gambia. Der belarussische Machthaber Lukaschenko hatte deutlich gemacht, dass er keineswegs daran denke, die Grenzen zu Polen, den baltischen Staaten Lettland und Litauen und der Ukraine zu schließen.

Einer seiner größten Kritiker, der belarussische Oppositionspolitiker Pawel Latuschko, hält den Verdacht der litauischen Regierung deshalb für völlig plausibel, dass Minsk Flüge aus dem Irak organisiert und Flüchtlinge bereitwillig ins Nachbarland lässt. Es habe bisher nie eine natürliche Bewegung von Flüchtlingen über Belarus gegeben, sagte Latuschko der Deutschen Presse-Agentur: "Das Regime organisiert sie selber künstlich", weil es sich für die EU-Sanktionen rächen wolle. Und Litauen gehört zu den Staaten, die innerhalb der EU besonders viel Druck gegen Minsk machen.

Die Regierung in Vilnius spricht sich nun wegen des Migrationskonflikts für weitere Sanktionen gegen Belarus aus. Vor allem aber will as Land sich schützen. Die Zahl der Flüchtlinge ist klein im Vergleich zu denen in anderen EU-Staaten, aber für Litauen ist sie groß. Das Land hat nicht einmal drei Millionen Einwohner und bisher selber kaum Flüchtlinge aufgenommen. Für Vilnius bedeutet die gewachsene illegale Migration über die belarussische Grenze etwas völlig Neues. Litauen ist EU-Außengrenze, von der 680 Kilometer langen Grenze zu Belarus sind etwa 60 Prozent bisher ungeschützt. Nun rüstet das Land auf, hat mit dem Bau eines 550 Kilometer langen Zauns begonnen; er soll eine Mischung aus physischer Barriere und elektronischer Überwachung sein.

Bei Griechenland hat sich Litauen bereits nach Erfahrungen beim Schutz der EU-Außengrenze erkundigt, Deutschland schickt nach Angaben von Innenministerin Agnė Bilotaitė zur verstärkten Überwachung zehn Polizisten, was das Bundesinnenministerium am Freitag bestätigte. Der Einsatz beginne am 30. Juli. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hilft schon jetzt bei Patrouillen und der Befragung der Flüchtlinge.

Zudem hat das litauische Parlament die Gesetze verschärft. Abgelehnte Asylsuchende haben nur noch eingeschränkte Rechte für einen Einspruch, nach ihrer Festnahme dürfen sie erst ein halbes Jahr später freigelassen werden - all dies soll abschrecken. Erschrocken darüber sind jedenfalls litauische Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen. Sie sehen darin einen Bruch internationaler Statuten.

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