Süddeutsche Zeitung

Partei:Die Linke braucht einen neuen Markenkern

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Eine Partei der Autokratenversteher und Nato-Verächter braucht kein Mensch. Das Potenzial der Linken liegt im Inneren der Gesellschaft. Was Deutschland benötigt: eine moderne Gerechtigkeitspartei.

Kommentar von Boris Herrmann, Berlin

Seit eh und je verkörpert Gregor Gysi die Widersprüchlichkeit seiner Partei. All ihre Häutungen von der SED über die PDS zur Linken hat er in führenden Funktionen begleitet. Auf diesem 30-jährigen Weg durch das vereinte Deutschland hat sich sehr vieles verändert, bei Gysi wie bei der Partei, aber ein dunkelroter Faden zieht sich durch ihre gemeinsame Geschichte: Sie konnten offenbar nie abschließend für sich klären, ob sie lieber staatstragend oder radikal sein wollen. Oder beides gleichzeitig. Das ist bis heute ihr Hauptproblem.

Selten ist das so deutlich geworden wie in den vergangenen Tagen. Da gelang Gregor Gysi das Kunststück, eine rot-rot-grüne Koalition nach der Bundestagswahl 2021 sowohl wahrscheinlicher als auch unwahrscheinlicher zu machen. Unwahrscheinlicher, weil er mit seinen Verschwörungsspekulationen all jenen eine Steilvorlage lieferte, die die Linke immer noch für eine unverbesserliche Partei der Putinfreunde und Autokratenversteher halten.

Gysi hatte nämlich behauptet, der russische Präsident Wladimir Putin könne überhaupt kein Interesse an einer Vergiftung des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny haben, stattdessen spekulierte er laut und deutlich über eine Verschwörung von Pipelinegegnern. Diese Haltung entspricht nicht der Linie der Führungsgremien in Partei und Fraktion, und einige Mitglieder haben sich auch schnell davon distanziert. Der kommunikative Schaden für das rot-rot-grüne Projekt war trotzdem immens. Zumal Gysi ja nicht mehr nur Gysi ist, sondern neuerdings auch außenpolitischer Sprecher.

Immer wahrscheinlicher macht derselbe Gregor Gysi dieses Projekt aber, weil er gerade in einem Interview nach dem anderen anschaulich erklärt, weshalb die Linke noch nie aus der Nato habe austreten wollen. Sinngemäß lautet das Argument: Bringt ja nichts, denn dann kann man nicht mehr auf ihre Abschaffung hinwirken. Für Teile der Parteilinken kommt das dennoch einer Kapitulation vor den eigenen Grundwerten gleich. Mit viel gutem Willen könnte man Gysis Wortmeldung zum Fall Nawalny auch als Versuch deuten, diese Kreise wieder zu besänftigen.

Allen, die sich mit der rechnerisch derzeit eher unwahrscheinlichen Aussicht auf Rot-Rot-Grün nach der Bundestagswahl 2021 beschäftigten, ist klar, dass der inhaltliche Knackpunkt die unberechenbare außenpolitische Flanke der Linken wäre.

Mindestens so dringend wie die offene Führungsfrage ist auf dem Parteitag Ende Oktober deshalb eine strategische Grundsatzentscheidung zu klären: Was will diese Partei eigentlich sein - und für wen? Eine Ansammlung von verkrachten Idealisten, die vor allem deshalb in den Bundestag einziehen, um zu sagen, was aus ihrer Sicht alles nicht geht? Oder eine ernst zu nehmende gestalterische Kraft, die Politik als Kunst des Möglichen akzeptiert? Nicht nur der Linken, sondern dem ganzen Land täte es gut, wenn es auf den zweiten Weg hinausliefe.

Wenn es überhaupt was werden soll mit Rot-Rot-Grün im Bund, dann muss sich vor allem die Linke neue Wählermilieus erschließen - jenseits ihrer sieben bis neun Prozent, bei denen sie seit Jahren herumdümpelt. Dafür ist es aber nötig, dass sie eine klare Machtperspektive anbieten kann, die Aussicht auf einen Wahlsieg, die Ahnung von einer Wechselstimmung.

Es ist richtig, dass dies nicht auf Kosten einer bedingungslosen Koalitionsbereitschaft geschehen darf. Aber es sollte auch nicht an der Sturheit einiger Hardliner und an den alten Parolen scheitern. An der entscheidenden Stelle im Parteiprogramm werden ganz bewusst keine Auslandseinsätze, sondern nur Kriegseinsätze ausgeschlossen. Das lässt Raum für Kompromisse, die die Linke in etwaigen Koalitionsverhandlungen nutzen sollte.

Keine Frage: Die Friedenspolitik muss ein Erkennungsmerkmal der Linken bleiben, aber wenn das ihr einziger Markenkern ist, dann braucht sie dringend einen neuen. Es ist jedenfalls nicht anzunehmen, dass die meisten potenziellen Linkswähler morgens mit der Frage im Kopf aufwachen, wie sie am schnellsten aus der Nato rauskommen.

Das unerschlossene Potenzial dieser Partei liegt dort, wo sie am meisten gebraucht wird: im Inneren der Gesellschaft. Die Linke müsste eine Partei der Mieter sein, eine Partei der öffentlichen Nahverkehrsfahrer, eine Partei der Corona-Verlierer, eine Partei der klaren Sprache.

Gebraucht wird sie als parlamentarische Stimme des sogenannten kleinen Mannes, wobei wirklich zu überlegen wäre, diesen kleinen Mann in die kleine Frau umzubenennen, oder noch besser in die kleine Alleinerziehende, die kleine Pflegekraft, die kleine wohnungssuchende Familie. Eine deutsche Gerechtigkeitspartei für die moderne Arbeitswelt - das wäre eine Marktlücke, in der sich vielleicht auch Wahlen gewinnen ließen.

Solch eine Linke hätte Deutschland dringend nötig. Eine Partei, die aus falsch verstandener Solidarität Despoten unterstützt, braucht dagegen kein Mensch.

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SZ vom 09.09.2020
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