Süddeutsche Zeitung

Krieg in der Ukraine:Angst vor einem Chaos ohne Ende

Lesezeit: 3 min

Von Cathrin Kahlweit, Kiew

Man kann in Kiew dieser Tage viel Kritisches hören über die neuen Politiker, die das Land regieren und einen Krieg führen, der die Ukraine zu zerreißen droht: Während auf den Straßen für die Armee gesammelt werde, kauften sich die Abgeordneten die neuesten Mercedes-Modelle.

Obwohl alle Welt von strenger Korruptionsbekämpfung rede, verschwinde im Verteidigungsministerium immer noch ein Teil des Geldes in dunklen Kanälen. Kriegsverbrechen, die von der ukrainischen Armee begangen würden, kläre die Regierung nicht mit dem nötigen Nachdruck auf. Die Strategie der Armeeführung im Osten sei falsch, weil sie die bei Debalzewo praktisch eingekesselten Soldaten nicht abziehe und so eine militärische Katastrophe in Kauf nehme.

So schimpfen die Menschen. Aber niemand, nicht in den Ministerien, nicht in den Redaktionsstuben, nicht auf den Straßen, geht so weit zu sagen, dass dieser Kampf falsch sei. Oder der Preis zu hoch. Es gehe, heißt es unisono, nicht nur um die territoriale Souveränität des Landes. Sondern um das Überleben eines Staates.

Poroschenko: Zumindest die Frontlinie halten

Präsident Petro Poroschenko hat den Kurs vorgegeben: Wenn der Donbass schon nicht zurückerobert werden könne, weil die Armee dafür allein zu schwach sei, dann müsse zumindest die derzeitige Frontlinie gehalten werden, koste es, was es wolle. Der Preis müsse hoch bleiben für Putin und seine irregulären Truppen, heißt es im Verteidigungsministerium, im Kreml verstehe man nur die Sprache der Stärke.

Würde Kiew den Donbass kampflos aufgeben, bedeute dies womöglich das Ende der Regierung - und der relativen Stabilität. Vasil Filiptschuk, Chef des Zentrums für Strategische und Internationalen Studien in Kiew, sagt das sehr drastisch: "Noch ein paar Katastrophen, weitere Niederlagen, dann wäre Minsk II die Folge. Und dann würden die Bedingungen, die man Kiew diktiert, anders aussehen als im ersten Vertrag."

Also ist man entschlossen, die Stellungen zu halten, trotz der vielen Opfer. Kaum jemand setzt allerdings darauf, dass Washington, wie zuletzt diskutiert, bald schon schwere Waffen liefert - auch wenn das ganz oben auf der Wunschliste von Armee und Regierung steht. Warum nur, fragt empört der Militärexperte und Regierungsberater Sergej Egurez, "können wir denn nicht zumindest in Europa gepanzerte Wagen und Transportfahrzeuge kaufen?" Viele Teile, die die Ukraine früher in Russland zugekauft habe, fehlten jetzt, aber im Westen wiederum fehle offenbar der politische Wille, der Ukraine Ersatz- oder Bauteile zu verkaufen.

Egurez setzt auf die Debatte der kommenden Wochen: "Wenn die Separatisten weiter jede Vereinbarung unterlaufen, dann wird man auch im Westen verstehen, dass wir Gefahr laufen, unterzugehen." Dass die ukrainische Armee aus eigener Kraft standhalten kann, das behaupten gleichwohl viele hochrangige Gesprächspartner im Verteidigungsministerium, im Außenministerium, beim Nationalen Sicherheitsrat - aller Kritik, allen Zweifeln im Detail zum Trotz. Es fehle zwar an allen Ecken und Enden an moderner Aufklärungs- und Kommunikationstechnik, an Radarstationen und Drohnen, aber immerhin: Die Panzerproduktion sei angelaufen, altes, marodes Material weitgehend repariert.

Nicht siegen, aber aushalten, gegenhalten, vielleicht nur für Monate, wahrscheinlich für Jahre - das ist das Worst-Case-Szenario, das in Kiew kursiert. Dabei betonen alle Gesprächspartner, dass es nicht nur um militärischen Widerstand gehe: Russland versuche derzeit mit ökonomischen, politischen, diplomatischen und eben auch militärischen Maßnahmen, das Land unregierbar zu machen.

Ein Dauerkonflikt führe dazu, dass die Wirtschaft, die ohnehin am Abgrund steht, weiter taumele, dass Investoren fernblieben, dass der Westen das Land aufgebe. Ein Abchasien, ein frozen conflict in den Grenzen der Ukraine, das sei da noch eine der erträglicheren Variante, sagt ein hoher Beamter, der nicht genannt sein möchte: Das würde immerhin bedeuten, das die Rest-Ukraine regierbar bleibe.

Generalstab und Oberbefehlshaber Poroschenko wollen daher alles daran setzen, ein weiteres Vordringen der Separatisten zu verhindern. Diese hatten mit russischer Unterstützung in den vergangenen Tagen und Wochen schon mehr als 500 Quadratkilometer Land zusätzlich erobert - und auch damit das Minsk-Abkommen unterlaufen, das eine Demarkationslinie auf dem Stand vom September festgeschrieben hatte.

Kiews Sorge um mehr Terrorakte

Voller Sorge betrachtet man in Kiew auch, dass immer mehr Terrorakte jenseits der Separatistengebiete verübt werden: Sprengstoffanschläge auf zivile Einrichtungen und Eisenbahnlinien in den Bezirken Charkiw und Saporoschie zeigten, heißt es im Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat, dass prorussische Kräfte außerhalb der "Autonomen Volksrepubliken Donezk und Luhansk" ihre Destabilisierungsversuche fortsetzten.

Dmitro Koleba, Experte für strategische Kommunikation im Außenministerium, formuliert, was ein Mitglied des Generalstabs wortgleich sagt: "Es gibt keinen Plan B." Wenn die ukrainische Armee ihre Stellungen nicht halten könne und die Separatisten vorrückten, dann bleibe "von diesem Land nur eine leere Hülle. Dann gibt es zwar eine Regierung und einen Staat, aber es ist ein Staat von Putins Gnaden."

Derzeit schaut das Land wie gebannt auf Debalzewo, wo die Armee-Einheiten auf drei Seiten von prorussischen Kräften umstellt sind. Seit Tagen evakuieren Soldaten Bewohner aus der Region, aber die Armee hat kaum Busse und wenige Lastwagen. Für jeden, der es aus dem Kessel hinausschafft, bleiben Hunderte verzweifelt zurück.

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SZ vom 06.02.2015
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