Süddeutsche Zeitung

Grüner Ministerpräsident:Konservative Politik, wie Kretschmann sie will

Lesezeit: 2 min

Rezension von Josef Kelnberger

Zweifellos hätte Alexander Dobrindt eine Widmung verdient, aber der Autor Winfried Kretschmann ist da stur: kein Wort über Dobrindt.

Dabei gäbe es ohne den CSU-Mann dieses Buch nicht. Kretschmann hat sich fürchterlich aufgeregt über Dobrindts Forderung nach einer "konservativen Revolution", welche die vermeintlich linken Eliten aus ihren Palästen jagen soll, getragen von der braven Bürgerschaft, unter Mithilfe der CSU, versteht sich.

Derart hat sich Kretschmann echauffiert, dass er zu schreiben anfing. "Worauf wir uns verlassen wollen. Für eine neue Idee des Konservativen", heißt das Buch, das herauskam. Die Botschaft: Der moderne Konservatismus ist nicht schwarz. Er ist grün.

In Baden-Württemberg, wo Kretschmann, 70, eine grün-schwarze Koalition leitet, gilt der Ministerpräsident sogar vielen in der CDU als Konservativer. So konservativ wie sein Freund Winfried wolle er nie sein, sagte zum Spaß Günther Oettinger. Er meint damit: schwäbisch-spießig. Aber was ist das eigentlich: konservativ?

Kretschmann hält den Konservatismus für ein "Kind des Wandels"

In die Sphären seiner Säulenheiligen von Aristoteles bis Hannah Arendt wird Kretschmann mit dem Buch nicht gleich aufsteigen. Aber die 160 Seiten fügen sich zum lesenswerten Konzept einer Politik, die dem Rechtspopulismus widersteht. Und wer verstehen will, warum die Grünen in Meinungsumfragen stark sind - hier bekommt man Erklärungen.

Kretschmann formuliert im wesentlichen zwei Ziele des Konservatismus. Er soll zum einen die natürlichen Lebensgrundlagen bewahren, vor allem den Klimawandel bekämpfen; die Entwicklung einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft hält Kretschmann für eine Schicksalsfrage des Industriestandorts.

Und zweitens soll er die offene Gesellschaft bewahren, von der Erinnerungskultur über Minderheitenrechte und humanen Umgang mit Flüchtlingen bis hin zur Europa-Bindung. Auf beiden Feldern traut er der Union nicht mehr über den Weg.

Der Grüne hält es für ein historisches Verdienst von CDU und CSU, dass sie einen liberalen, pro-westlichen Konservatismus in Deutschland verankerten. Er attestiert ihnen aber einen "naiven Fortschrittskonservatismus".

Deshalb führt Kretschmann Hans Jonas mit seinem "Prinzip Verantwortung" und Erhard Eppler mit der Unterscheidung von Struktur- und Wertkonservatismus als Leitsterne ein. "An Werte gebundenes Gestalten" sei das Gebot angesichts der Herausforderungen durch Globalisierung, Digitalisierung, Migration.

Im Kanon konservativer Werte hängt Kretschmanns Herz am Nationalstaat nur sehr wenig. Die Art und Weise jedenfalls, wie neuerdings wieder Heimat und Christentum zur deutschen Leitkultur zusammengerührt werden, hält Kretschmann für geistige Dünnbrettbohrerei - und für gefährlich nationalistisch obendrein.

Er nimmt den Leser mit auf eine Reise zur Akropolis (Wurzeln der Demokratie), zum Kapitol (Ursprünge des Rechtsstaats) und zum Hügel Golgotha (christlich-jüdische Wurzeln), um zu belegen: Unsere Leitkultur ist europäisch geprägt. Auch in Bayern wird er fündig, bei einem alten Wahlslogan der CSU ausgerechnet: "Bayern unsere Heimat. Deutschland unser Vaterland. Europa unsere Zukunft."

Das könnte er, wäre er Bayer, glatt unterschreiben. Der Grüne ist durch und durch Föderalist und Anhänger des Subsidiaritätsprinzips. An den Nationalstaat bindet ihn der Verfassungspatriotismus, sonst wenig, und Europa soll, bei aller Liebe, den Ländern nicht allzu sehr ins Handwerk pfuschen.

Kretschmann hält den Konservatismus ohnehin für ein "Kind des Wandels". Er definiert ihn als Pragmatismus, der in Zeiten von Umbrüchen Sicherheit und Zuversicht vermittelt, "den Dingen keine vorgefertigten Wahrheiten überstülpt", sondern die Wahrheit "in den Tatsachen sucht".

Grüner Konservatismus oder grüner Liberalismus

Konservatismus als liberale Haltung. An der Stelle kommt man nicht vorbei an Aristoteles und seiner Mesotes-Lehre, die Maß und Mitte predigt. Sie ist Kretschmanns Glaubensbekenntnis als Politiker: zivilisiert streiten, den Ausgleich suchen, Verantwortung fürs Ganze übernehmen, verlässlich regieren, ehrliche Kompromisse suchen.

Dem Buch vorangestellt hat Kretschmann ein Zitat von Hannah Arendt: "Der Sinn von Politik ist Freiheit." Auch deshalb kann man diskutieren, ob er hier einen grünen Konservatismus umreißt oder doch einen grünen Liberalismus, der sich frei macht vom Weltrettungspathos.

Die spannendere Frage ist: Folgt ihm seine Partei bei einem Politikansatz, der auf die Mitte und auf Mehrheiten zielt?

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SZ vom 09.10.2018
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