Süddeutsche Zeitung

Kolumbien:Der verschwundene Popstar der Guerilla

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Von Christoph Gurk, München

Es war Kolumbiens Senatspräsident Ernesto Macías Tovar, der am Montag ungewollt für Auflockerung in der angespannten politischen Atmosphäre sorgte: Auf Twitter bat er Interpol darum, sich des Falls Jesús Santrich anzunehmen. Der ehemalige Kämpfer der marxistischen Farc-Guerilla und heutige Politiker war am Sonntag spurlos verschwunden. Bei der Suche vertraue er nun auf Interpol, schrieb Tovar, dummerweise verlinkte er in seinem Tweet aber nicht die internationale Kriminalpolizei Interpol, sondern eine gleichnamige Rockband aus New York. Kolumbiens Zeitungen und Radios amüsierten sich über den Irrtum, reihte er sich doch ein in eine ganze Kette von Fehlern und Ungereimtheiten.

Knapp drei Jahre nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags ist Kolumbien tief gespalten. Die rechtskonservative Regierung unter Iván Duque, auf der einen Seite, würde das Abkommen am liebsten rückgängig machen. In ihren Augen sind die ehemaligen Kämpfer vor allem Verbrecher und Drogendealer, die hinter Gitter gehören. Die Ex-Guerilleros dagegen haben zu Tausenden ihre Waffen abgegeben. Der Staat versprach, sie zu schützen, nun aber vergeht kaum eine Woche, in der nicht ein Farc-Mitglied ermordet wird. Täter sind rechte Paramilitärs oder Soldaten. Immer mehr einstige Kämpfer kehren zu den Waffen zurück, und die mittleren und oberen Ränge der Ex-Guerilla tauchen zunehmend unter. Zum Schutz, wie sie sagen. Die Regierung dagegen glaubt, es gehe ihnen vor allem um ihren Anteil am lukrativen Rauschgifthandel.

Seit dem Friedensvertrag 2016 wurden über 100 ehemalige Kämpfer der Farc ermordet

Die Situation ist also verfahren, das Friedensabkommen zunehmend auf der Kippe - und das Verschwinden von Jesús Santrich hat nun noch einmal zu einer Verschärfung des Konflikts beigetragen. Der 51-Jährige mit der dunklen Sonnenbrille und dem Palästinensertuch ist so etwas wie der Popstar der Farc. Geboren als Seuxis Pausias Hernández Solarte, schloss er sich in den Neunzigerjahren als junger Student der Guerilla an. Trotz einer Augenkrankheit, die ihn heute fast hat erblinden lassen, stieg er schnell auf. Als die Farc 2012 nach fast fünf Jahrzehnten des bewaffneten Kampfs begann, mit der kolumbianischen Regierung über einen möglichen Frieden zu sprechen, saß Santrich mit in den Verhandlungen. Damals erregte er mit einem zynischen Kommentar landesweit Empörung: Gefragt, ob die Farc nach einem Friedensschluss bereit sei, sich bei ihren Opfern zu entschuldigen, antwortete er mit einer Zeile des kubanischen Schlagers "Quizas": "Vielleicht, vielleicht, vielleicht". Dennoch: Im November 2016 unterzeichneten die Guerilla und die Regierung einen Friedensvertrag. Kolumbiens damaliger Präsident Juan Manuel Santos erhielt für seine Bemühungen den Friedensnobelpreis, Santrich immerhin einen der zehn zuvor ausgehandelten Sitze im Kongress. Doch noch bevor der Ex-Kämpfer als Abgeordneter vereidigt werden konnte, wurde er verhaftet. Ein Gericht in New York warf ihm vor, zehn Tonnen Kokain in die USA verschoben zu haben.

Die Festnahme löste einen Aufschrei unter den ehemaligen Guerilleros aus. Tatsächlich waren die Beweise gegen Santrich dürftig und unter fragwürdigen Bedingungen gesammelt worden. Die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden setzte ihn darum nach knapp einem Jahr wieder auf freien Fuß - und dies wiederum löste einen Aufschrei unter konservativen Politikern aus. Als Santrich Mitte Mai dieses Jahres schlussendlich seinen Platz im Kongress einnahm, protestierten viele Abgeordnete mit Schildern, auf denen "Friede ja, Santrich nein" stand. Präsident Duque bezeichnete ihn wiederholt als "Mafioso" und Verbrecher.

Als Santrich nun am Wochenende ein Lager zur Wiedereingliederung ehemaliger Farc-Angehöriger besuchte, verschwand er spurlos aus seiner Hütte. Seitdem rätselt das ganze Land, was passiert sein könnte. Politiker von Duques Partei vermuten, Santrich habe sich abgesetzt, um sich seinem Gerichtsprozess zu entziehen. Vertraute des ehemaligen Guerilla-Führers sagen dagegen, er habe Morddrohungen erhalten und sei darum untergetaucht.

Wo Santrich sich aufhält, ist unklar. Beobachter glauben, er könnte sich über die grüne Grenze nach Venezuela abgesetzt haben. Das dortige Regime von Nicolás Maduro würde ihm vermutlich Schutz bieten. Außerdem werden dort auch weitere hochrangige Farc-Mitglieder auf der Flucht vermutet.

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Quelle:
SZ vom 04.07.2019
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