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Junge Erwachsene aus Großbritannien:"Wir wussten, dass es so kommt. Trotzdem ist es furchtbar"

Lesezeit: 5 min

Der neu gewählte Premierminister Boris Johnson hat großen Einfluss auf die Zukunft der jungen Britinnen und Briten. Was denken sie über den Regierungschef? Fünf Stimmen.

Protokolle von Eva-Maria Brändle

Sie wurden beim Brexit-Referendum von den Älteren überstimmt: die jungen Menschen in Großbritannien. Nun heißt ihr neuer Premierminister Boris Johnson, der unbedingt zum 31. Oktober aus der Europäischen Union austreten will - wenn es sein muss, auch ohne Deal mit der EU. Entsprechend frustriert sind viele junge Erwachsene über die Wahl Johnsons als Regierungschef. Doch es gibt auch die, die dem neuen Premier etwas abgewinnen können.

Farrah Barber, 21, macht ein Erasmus-Semester in Tübingen

"Ich bin tief bestürzt, dass Boris Johnson der neue Premier ist. Ich finde es grundsätzlich erschütternd, dass ein Brexit-Befürworter unser Land regiert und dann auch noch einer, der sich anscheinend einen Austritt aus der EU ohne Abkommen vorstellen kann.

Ich mache zurzeit ein Erasmus-Semester in Deutschland und bin daher von Leuten aus aller Welt umgeben, besonders natürlich von Deutschen. Ich habe hier realisiert, in was für einem schlechten Licht die ganze Situation Großbritannien erscheinen lässt.

Ich will nicht für immer in Großbritannien leben. Ich liebe Europa und alles, wofür es steht. Für mich fühlt sich die aktuelle Situation an wie ein Delirium. Schon die Entscheidung für den Brexit war so knapp. Und nun haben 0,35 Prozent der britischen Bevölkerung darüber entschieden, dass Boris Johnson Premier wird. Wie kann das noch demokratisch sein?

In meinem Freundeskreis an der Uni denken die meisten wie ich. Doch es ist ganz anders, wenn ich nach Hause komme. Ich bin in der Stadt Stoke-on-Trent aufgewachsen. Das ist eine Brexit-Hochburg: 70 Prozent haben für den Austritt aus der EU gestimmt. Ich vertrete meine Meinung ziemlich überzeugt und bin dann erschüttert, wenn ich viele Leute in meiner Heimat höre. Das Thema Immigration hat die gesamte Brexit-Frage bestimmt - obwohl so viele Behauptungen dazu Lügen sind.

Eines der größten Probleme, die ich in Großbritannien sehe, ist die Chancenungleichheit. Die Schule, die man besucht, ist viel wichtiger als die Qualifikation. Ein Beispiel dafür ist meiner Meinung nach gerade Boris Johnson. Er ist in Eton zur Schule gegangen und war dann in Oxford. Ich glaube nicht, dass er sich die Konsequenzen des Brexit für diejenigen vorstellen kann, die nicht zu den wenigen Menschen gehören, die um ihn herum leben."

Andrew Meredith, 27, Apotheker in Liverpool

"Ich bin nicht politisch aktiv und habe Johnsons Wahl nur am Rande verfolgt. Da ich ohnehin nicht wählen durfte - ich bin kein Mitglied der Tories -, hat es mich nicht so stark interessiert. Boris Johnson wäre nicht meine erste Wahl, aber das wäre auch Jeremy Hunt nicht gewesen.

Trotzdem finde ich, dass Johnson eine interessante Persönlichkeit ist. Ich denke, er ist ziemlich intelligent, auch wenn er sich manchmal nicht so präsentiert. Und er ist lustig. Er wird zumindest frischen Wind bringen und das brauchen wir dringend. Theresa May hat nicht besonders viel bewegt, da erhoffe ich mir mehr von Johnson.

Ich habe beim Referendum gegen den Brexit gestimmt und hoffe, dass Johnson zumindest einen Deal mit der EU aushandeln kann. Die Konsequenzen eines Brexit werden sich für mich persönlich aber in Grenzen halten. Ich arbeite für den National Health Service (NHS). Langfristig kann ich mir vorstellen, dass der NHS durch den Brexit stärker privatisiert werden könnte. Vermutlich wird auch der Kurs des britischen Pfunds etwas abfallen. Aber ich sehe keine so dramatischen Folgen, wie sie von manchen Leuten erwartet werden."

Sonja Nicholls, 24, Forscherin bei einem Medienunternehmen in Glasgow

"Wir wussten alle, dass es so kommt. Trotzdem ist es furchtbar, dass Boris Johnson neuer Premier ist. Ich bin in England aufgewachsen, dann war ich drei Jahre in Deutschland und inzwischen lebe ich in Glasgow, Schottland. Die meisten hier finden den Brexit nicht gut. Ich bin Mitglied in der Schottischen Nationalpartei (SNP) und habe die Hoffnung, dass Schottland unabhängig werden kann.

Boris Johnson hat in der Vergangenheit gegen die Menschen in Schottland gehetzt. Insofern ist es für uns, die wir hier leben, unerträglich, dass er nun Premier ist. Doch er hat nicht nur in Bezug auf Schottland viele Grenzen überschritten. Er hat zum Beispiel gesagt, dass vollverschleierte Frauen aussähen wie Briefkästen. Und auch sein berühmter Wahlkampfbus, auf dem die Behauptung zu lesen war, dass 350 Millionen Pfund an die EU fließen- das war eine Lüge.

Johnson war immer eine Art Komiker und ich glaube, dass viele Leute finden, dass er Charisma hat. Das kann ich überhaupt nicht verstehen. Er steht sehr für das alte England - er hat sogar ein Buch über Winston Churchill geschrieben. Johnson bedient immer die Vorstellung der britischen Stärke - ich finde das rückwärtsgewandt.

Ich habe das Glück, dass ich die britische und deutsche Staatsbürgerschaft habe. Wenn der No-Deal Brexit kommt, dann überlege ich, nach Deutschland zu ziehen. Denn was sagt es über die Leute, die in Großbritannien leben, dass sie so etwas gut finden?"

Oliver Silk, 23, aus Oxford, Jurastudent

"Ich bin froh, dass wir einen neuen Premierminister haben. Im Vergleich zu Theresa May ist Boris Johnson die bessere Wahl. Ich finde, dass May den Brexit nicht besonders gut verhandelt hat. Sie hatte nie ein klares Ziel. Boris Johnson dagegen verspricht den Brexit zum 31. Oktober. Ich weiß, dass auch May einen Termin für den Brexit genannt hat, aber ihr hat niemand geglaubt.

Die Leute trauen Boris Johnson mehr zu. Das hat mit seiner Persönlichkeit zu tun. Er war in den vergangenen Jahren oft im Fernsehen zu sehen, davor war er Journalist und als Bürgermeister von London war er sehr bekannt. Johnson hat sich einen Namen gemacht. Theresa May hat keine so große Medienpräsenz. Bei wichtigen politischen Terminen habe ich mich manchmal gefragt: Wo ist unsere Premierministerin - und was macht sie?

Ich glaube es ist wichtig, dass Johnson Großbritannien im Falle eines No-Deal-Szenarios auch darauf vorbereitet. Denn dass es so weit kommt, halte ich für durchaus realistisch. Auch wenn ich den Brexit generell nicht gut finde. Ich habe für "Remain" gestimmt - so wie die überwältigende Mehrheit meiner Mitstudierenden. Der Brexit wird für mich viele Nachteile haben. Ich reise viel innerhalb Europas und das wird sicherlich teurer werden."

Naomi Radford-Smith, 28, arbeitet bei einem Unternehmen in Manchester

"Boris Johnson verfolgt nur seine eigene, persönliche Agenda. Das beunruhigt mich am meisten. Er hat immer überlegt, wie er selbst eine Stufe weiter nach oben kommt. Dabei ging es ihm nicht um das, was für das Land am besten wäre.

Mir gefällt überhaupt nicht, dass er so viel von der Option eines No-Deal-Szenarios spricht. Ich frage mich, wie viele Leute von denen, die für den Brexit gestimmt haben, das auch angesichts eines Austritts ohne Abkommen getan hätten. In Wirklichkeit repräsentiert Johnson nur einen Bruchteil der britischen Gesellschaft.

Für jemanden aus meiner Generation fühlt sich die Vorstellung, die Europäische Union zu verlassen, seltsam an. Ich würde fast sogar sagen, es ist ein isolierendes Gefühl. Auch wenn ich nie außerhalb Englands gelebt habe - wenn ich gewollt hätte, dann hätte ich auch einfach mal in Barcelona leben können.

Ich arbeite in Manchester im Personalbereich und habe viel mit den Arbeitsverträgen unserer Mitarbeiter auf der ganzen Welt zu tun. Wenn der Brexit im Oktober kommt, wovon ich leider ausgehe, werde ich - vorsichtig formuliert - ein sehr chaotisches Arbeitsjahr haben."

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