Süddeutsche Zeitung

Attentat auf Shinzō Abe:"Es ist unbestritten, dass es Sicherheitsprobleme gab"

Lesezeit: 4 min

Nach dem Mord am früheren Premierminister Abe diskutiert Japan die Sicherheit bei Auftritten prominenter Politiker. Es verdichtet sich die Erkenntnis, dass die Polizei zu nachlässig war.

Von Thomas Hahn, Tokio

Am Samstagabend folgte der nächste schmerzhafte Beitrag zur Sicherheitsdebatte nach dem tödlichen Anschlag auf Japans Ex-Premierminister Shinzō Abe. Tomoaki Onizuka, Polizeipräsident der Präfektur Nara, gab eine Pressekonferenz und sagte: "Es ist unbestritten, dass es Sicherheitsprobleme gab" bei der Bewachung Abes, als dieser vor dem Bahnhof Yamato-Saidaiji in Nara City inmitten des normalen Tagesverkehrs eine Wahlkampfrede zur Oberhauswahl an diesem Sonntag hielt. Damit verdichtete sich zusätzlich der Eindruck, dass das Attentat, das der 41-jährige Ex-Marinesoldat Tetsuya Yamagami am Freitag gegen halb zwölf Uhr mittags mit einem selbstgebauten Gewehr verübt hatte, zu verhindern gewesen wäre.

Am Tag nach dem schockierenden Anschlag waren zunächst neue Details zur Tat bekannt geworden. Mit Verweis auf Ermittlerkreise berichteten japanische Medien, dass der festgenommene Yamagami zugegeben habe, Abe aus Ärger über eine religiöse Organisation erschossen zu haben. Seine Mutter habe der Organisation so viel Geld gespendet, dass die Familie in Schwierigkeiten gekommen sei. Zuerst habe er vorgehabt, den Leiter der Organisation umzubringen. "Aber das war schwierig. Deshalb habe ich mir Abe vorgenommen, weil ich glaubte, dass er Verbindungen zu der Organisation hat." So zitiert die Zeitung Asahi den Täter. "Ich wollte ihn töten."

Um welche Organisation es sich handelte, wurde nicht bekannt. Dafür teilte die Polizei mit, sie habe mehrere selbstgebaute Waffen in Yamagamis Wohnung gefunden. Er selbst soll der Polizei gesagt haben, dass er versucht habe, Bomben zu bauen.

In Seoul nannte man den Mord ein "inakzeptables Verbrechen", Wladimir Putin würdigte Abe als "wunderbaren Mann"

Der gewaltsame Tod Shinzō Abes war ein verstörendes Ereignis für die Menschen in Japan. Die Waffengesetze in Japan sind streng. Verbrechen mit Schusswaffen kommen nicht oft vor. Und dass ein derart prominenter Politiker wie Shinzō Abe erschossen wird, hat es in der Nachkriegsgeschichte Japans überhaupt noch nicht gegeben. Die Nation war am Samstag deshalb deutlich gezeichnet von Trauer und Verunsicherung. Trauernde kamen zum Tatort vor dem Bahnhof Yamato-Saidaiji. Medien übertrugen live die Überführung des Sargs von Nara nach Tokio. Im neu erbauten Nationalstadion von Tokio, einem Vermächtnis der zweiten Amtszeit Abes als Premierminister von 2012 bis 2020, erhoben sich 57 000 Besucherinnen und Besucher von ihren Plätzen zu einer Schweigeminute vor dem Match der japanischen Rugby-Nationalmannschaft gegen Frankreich.

Abe war ein rechtskonservativer Machtpolitiker, dessen Kurs selbst in Japan viele abschreckte. Aber in der Anteilnahme waren alle vereint. Beileidsbekundungen kamen auch aus China und Südkorea. Wegen Japans Vergangenheit als Kolonialmacht ist das Verhältnis zu beiden Ländern belastet, und der Nationalist Abe machte sie nicht besser. Vor allem die Beziehungen zu Südkorea verschlechterten sich in Abes Zeit als Regierungschef deutlich. Aber der komplizierte Konflikt schien für ein paar Augenblicke zu ruhen, als Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol in Seoul den Mord an Abe ein "inakzeptables Verbrechen" nannte. Und auch aus Moskau kamen tröstende Worte. Abe pflegte als Premierminister immer einen regen Austausch mit Russlands Präsident Wladimir Putin, weil er diesen dazu bringen wollte, die südlichen Kurilen vor Hokkaido nach der Besetzung im Zweiten Weltkrieg an Japan zurückzugeben. Das gelang nie, und seit Putins Angriff auf die Ukraine sah Abes Russland-Nähe nicht mehr gut aus. Wie die russische Regierung mitteilte, schickte Putin ein Beileidstelegramm an Abes Mutter Yoko Kishi und seine Frau Akie Abe, in dem er Abe als "wunderbaren Mann" würdigte.

Auf den Videos hört man eine sekundenlange Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Schuss

Der Wahlkampf ging weiter, nachdem einige Parteien am Freitag nach dem Attentat innegehalten hatten. Die Oberhauswahl diesen Sonntag wird wie geplant abgehalten. Japans Demokratie will zeigen, dass sie vor Gewaltverbrechern nicht einknickt. Allerdings fanden die letzten Wahlkampfreden der Spitzenpolitiker unter strenger Bewachung statt. Denn sehr schnell kam zur Betroffenheit über den Tod Abes eine harte Debatte über die Sicherheit bei Auftritten prominenter Politiker. Zumal die zahlreichen Videos vom Tatort den Eindruck erweckten, als habe Abes Mörder nach seinem ersten Fehlschuss Zeit gehabt, ein zweites Mal anlegen zu können. Auf den Videos hört man eine sekundenlange Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Schuss.

Die Entscheidung, dass Shinzō Abe mitten im normalen Tagesverkehr auf einem freien Platz vor dem Bahnhof Yamato-Saidaiji auftreten würde, war erst am Abend zuvor gefallen. Dadurch hatten die zuständigen Polizeistellen in Nara möglicherweise zu wenig Zeit, sich auf die Risiken eines solchen Auftritts einzustellen. Aber sie waren wohl auch grundsätzlich nicht auf den Angriff mit einer Schusswaffe eingestellt.

Hideto Osanai, 49, Chef einer Bodyguard-Agentur, sagte in der rechten Zeitung Sankei: "In Japan geht man davon aus, dass Anschläge mit Messern und stumpfen Waffen verübt werden. Die Kollegen am Tatort sind zwar geschult, aber ich glaube nicht, dass sie auf die Möglichkeit vorbereitet waren, dass Prominente mit Schusswaffen angegriffen werden." In der Zeitung Mainichi kritisierte ein nicht namentlich genannter hochrangiger Polizist, dass zu wenige Beamte den Rücken Abes absicherten. Im Sender NHK sagte der Sicherheitsexperte Koichi Ito: "Auf Videos können wir sehen, wie der Verdächtige mit einer Tasche herumläuft und vor dem Vorfall direkt auf den ehemaligen Premierminister Abe zugeht." Das Verhalten hätte auffallen müssen. Koichi: "In Anbetracht der unumstößlichen Regel, verdächtige Personen vom Tatort zu entfernen, zu befragen und ihre Sachen zu untersuchen, muss ich sagen, dass es in diesem Fall einen Mangel an Koordination zwischen Sicherheitskräften gab."

Dann meldete sich der Polizeipräsident Onizuka mit seinem Zugeständnis, das alle Kritiker bestätigte. Am Ende des ersten Tages nach dem fatalen Attentat setzte sich eine bedrückende Erkenntnis durch: Shinzō Abe könnte noch leben, wenn er besser geschützt worden wäre.

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