Süddeutsche Zeitung

Italiens Regierungskrise:Lässt sich Draghi noch umstimmen?

Lesezeit: 4 min

Oder bleibt es bei seinem Rücktritt? Am Mittwoch wird der Premier im römischen Parlament erwartet - für "comunicazioni". Unterdessen dreht sich das Karussell von Hellsehern und Küchenpsychologen.

Von Oliver Meiler, Rom

In Italien läuft nun die hohe Zeit der Zeichendeuter und Hobbypsychologen. Zu erörtern gilt es jedes Mienenspiel, jedes hingeworfene Wort von Mario Draghi, wenn er denn überhaupt welche preisgibt: Italiens demissionierender Premier ist ein eher lakonischer Mensch, dem Pathos abhold. "Very British", sagen die Italiener. Fünf Tage lang wird das so gehen, in unendlichen Talkshows mit den immer selben und oftmals geistreichen Analysten des politischen Betriebs, die gerne auch mal lateinische Sinnsprüche einwerfen, um den Entwicklungen im Palazzo die nötige historische Tiefe anzudichten. Bis nächsten Mittwoch. Dann wird Draghi im Parlament erwartet - für "comunicazioni". So steht es im Communiqué aus dem Amtssitz des Staatspräsidenten, von Sergio Mattarella. Der hat Draghis Rücktritt zurückgewiesen.

Was wohl genau unter "comunicazioni" gemeint ist? Informiert Draghi die Kammern - und durch sie auch das italienische Volk -, warum er zum Schluss gelangt ist, der Pakt des Vertrauens in seiner Regierung der nationalen Einheit sei gebrochen, da könne man nichts machen? Oder lässt er sich umstimmen, bedrängt von besorgten Freunden der Stabilität, im In- und Ausland, hält eine programmatische Rede, an dessen Ende er die Vertrauensfrage stellt? Auch darüber wird gerätselt, es gibt eben immer viel Stoff.

Der Regierungschef hätte guten Grund, die frivolen Spiele der Politiker sattzuhaben

Wer Draghi kennt, geht davon aus, dass er definitiv abgeschlossen hat. Zermürbt und enttäuscht über das frivole Spiel der Parteien, die bereits in den Wahlkampfmodus gewechselt sind und sich der schwierigen Lage des Landes nicht gewahr sind. Allen voran die Cinque Stelle von Giuseppe Conte natürlich, die dem Premier am Donnerstag im Senat das Vertrauen verweigert haben. Aber auch die rechte Lega von Matteo Salvini. Beide Parteien leiden unter Konsensschwund, beide brauchen dringend Publizität. Draghi soll zu seinen Leuten gesagt haben, er sei nicht bereit, sich mehr schlecht als recht durchzuhangeln von Ultimatum zu Ultimatum. Er ist bald 75, seine Karriere ist rund: Warum soll er sich das noch antun?

Draghi sieht seinen Auftrag als Dienst am Land, er ist ein hoher Funktionär des Staates. Als neulich die Debatte aufkam, was er nach Ablauf der Legislaturperiode machen könnte, ob er nicht ein idealer Chef einer neuen Zentrumspartei wäre, sagte er: "Viele denken sich Dinge aus für mich, aber einen Job, wenn ich denn einen wollte, finde ich mir schon selber." Da schwang auch mit: ich schon!

In den 17 Monaten seiner Amtszeit hat es Draghi immer wieder geschafft, die sehr unterschiedlichen Seelen in seinem Kabinett zu harmonisieren. Wenn mal wieder Conte oder Salvini eine Attacke fuhren in den Medien, lud er die Herrschaften einzeln in sein Büro. Meist reichte eine kurze Unterredung, zwanzig Minuten, dann waren sie für eine Weile ruhig. Palazzo Chigi, der Amtssitz des Premiers, schickte jeweils eine Notiz an die Medien, in der stand, der "Presidente" habe sich mit X oder Y unterhalten - ein Satz. Er wirkte immer wie ein Schlussstrich. Zuletzt funktionierte die Nummer weniger gut, die Ruhephasen wurden kürzer. Das hat natürlich damit zu tun, dass in Italien spätestens im kommenden Frühjahr ein neues Parlament gewählt wird. Viele bangen um ihre Sitze, zumal nach der Kürzungsreform viel weniger davon zu vergeben sind: Die Abgeordnetenkammer schrumpft von 630 auf 400 Sitze, der Senat von 315 auf 200.

Einige Parteien sind schon im Wahlfieber. Sie lassen sich kaum noch disziplinieren

Die Panik hat alle erfasst, die Umfrageverlierer im Besonderen. Und das wird sich nicht mehr ändern, wie diese Regierungskrise auch immer ausgeht. Selbst wenn sich Draghi in den kommenden fünf Tagen der Passion überzeugen lassen sollte, Premier zu bleiben: Parteien im Wahlfieber lassen sich schwerlich disziplinieren. Die Lega ist gar nicht so sicher, ob sie Draghi überhaupt umstimmen will - zumindest Salvini hadert. Seitdem seine frühere Juniorpartnerin im rechten Lager, die Postfaschistin Giorgia Meloni, ihn in den Umfragen überflügelt hat, ist er nervös. Meloni hingegen will möglichst bald Wahlen: "Elezioni subito!", schrieb die Oppositionelle auf ein Plakat und hielt es in die Kameras. Salvini sagt, er fürchte die Wahlurnen nicht. Tatsächlich? Und was ist mit den Cinque Stelle: Bereuen sie den Bruch schon?

So hängt am Ende wahrscheinlich alles an Draghis Lust und an der Kraft jener, die an den Verantwortungssinn des Staatsdieners appellieren. Am Wochenende hat er keine offiziellen Termine. Am Montag und Dienstag erwartet man ihn dann in Algerien, wo er neue Abkommen für die Gasbelieferung Italiens unterzeichnen wird. Unterdessen, so darf man annehmen, wird er viel telefonieren. In Brüssel schaue man insgesamt "mit besorgtem Erstaunen" nach Rom, ließ Paolo Gentiloni ausrichten, der frühere Premier und jetzige EU-Kommissar. Draghi hat Italien außenpolitisch fest positioniert: an der Seite der Ukraine, immer im Einklang mit der EU und der Nato - weg von der Ambivalenz der Fünf Sterne und der Lega. Appelle für politische Stabilität gab es auch schon aus dem Vatikan, und andere werden folgen. Aber ob das reicht?

Der Corriere della Sera hat nun eine beliebte Rubrik gestartet: den "Toto-crisi", einen Barometer der Regierungskrise. Gemessen wird die Wahrscheinlichkeit von vier möglichen Szenarien, mit bunten Grafiken. Im Moment hält es die Zeitung für wahrscheinlich, dass es bei Draghis Rücktritt bleibt und die Italiener im Herbst ein neues Parlament wählen werden. Wahlen im Herbst gab es seit Ausrufung der Republik 1946 zwar noch nie, aber das muss nichts heißen. Das zweitwahrscheinlichste Szenario, aber deutlich unwahrscheinlicher, ist demnach eine Weiterführung der Regierung Draghi mit denselben Partnerparteien. Für ziemlich unwahrscheinlich hält der Corriere die Berufung eines neuen parteilosen Premiers - eines Fährmanns, der bis Ende der Legislaturperiode regieren würde. Als noch unwahrscheinlicher gilt nur ein "Draghi bis", also eine Regierung Draghis in neuer Zusammensetzung. Stand Freitag. Da bleibt noch viel Zeit für Wendungen.

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