Süddeutsche Zeitung

Israel:Wo die Zukunft der Medizin bereits begonnen hat

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Israel ist bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens weit voraus. In Corona-Zeiten war das eine entscheidende Grundlage für die schnelle und erfolgreiche Impfkampagne des Landes.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Israel zieht Pilger an aus aller Welt, doch als Magnet wirken nicht nur die heiligen Stätten in Jerusalem oder am See Genezareth. Manche werden auch magisch angezogen vom israelischen Hightechpotenzial, und auf diesen Pilgerpfaden ist im vorigen Jahr der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach im Gelobten Land gewandelt. Er kam und sah, wie Israel die Corona-Pandemie besiegt hat. Und er sprach: "Was Sie tun, können wir nicht."

Der mit Bedauern, vielleicht sogar Neid gesagte Satz bezog sich vor allem darauf, dass Israel den Deutschen weit voraus ist bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens, und in Corona-Zeiten hat sich das besonders ausgezahlt. Denn dies war eine entscheidende Grundlage für Israels schnelle und erfolgreiche Impfkampagne, bei der Premierminister Benjamin Netanjahu seinem Land unwidersprochen den Titel "Impfweltmeister" verliehen hatte.

Schon zum Ende des ersten Pandemie-Jahres hatte die israelische Regierung mit dem Impfstoff-Lieferanten Pfizer einen Handel abgeschlossen, den beide als "Win-win-Situation" empfanden. Pfizer lieferte genug Impfstoff für die gut neun Millionen Israelis. Im Gegenzug liefert das bestens digitalisierte israelische Gesundheitssystem die beim Impfprozess gewonnenen anonymisierten Daten an Pfizer. Der Pharmakonzern konnte so die Wirksamkeit seines gemeinsam mit der deutschen Firma Biontech entwickelten Vakzins in einem Modellland erproben - mit Vorteilen für den Rest der Welt. Denn auf israelischen Daten basierten fortan viele der globalen Entscheidungen im Umgang mit der Pandemie.

Die Krankenkassen geben auf Basis der elektronischen Patientendossiers Gesundheitstipps

Möglich war dies, weil Israel schon im vorigen Jahrtausend die Weichen für die Digitalisierung des Gesundheitssystems gestellt hatte. Heute verfügen die insgesamt vier israelischen Krankenkassen, in denen jeder Bürger verpflichtend Mitglied ist, über lückenlose digitale Patientendossiers. Registriert wird dort jeder Arztbesuch, jede Diagnose, jedes verschriebene Medikament. Wer zum Arzt geht, übergibt ihm eine kleine Magnetkarte - und schon hat der über seinen Computer in der Praxis Einblick ins Dossier. Auf Grundlage dieser digitalen Patientenakten werden die Kassen auch präventiv tätig, um ihre Kunden per SMS oder Mail zum Beispiel an Vorsorgeuntersuchungen zu erinnern oder ihnen sonstige, auf ihr Alter oder ihre Vorerkrankungen zugeschnittene Gesundheitstipps zu geben.

Das mögen manche als übergriffig empfinden, doch grundsätzlich sind die Israelis in Sachen Datenschutz nicht sonderlich sensibel. Ihre größte Sorge gilt stets der persönlichen und nationalen Sicherheit, und sie sind daran gewöhnt, überall kontrolliert und überwacht zu werden. Selbst beim Tanken muss man die Nummer seines Personalausweises eingeben. In der Digitalisierung der Gesundheitsdaten sehen sie vor allem Vorteile, und die Weitergabe stört sie wenig - zumal dann, wenn dies wie im Falle der Impfdaten an Pfizer als Projekt von nationalem Interesse betrachtet wird.

Schon 2018 hat die Regierung überdies offensiv damit begonnen, die Gesundheitsdaten auch wirtschaftlich zu nutzen. Verabschiedet wurde ein digitaler Gesundheitsplan, der vorsieht, die medizinischen Daten aller neun Millionen Bürger anonymisiert zu Forschungs- und Entwicklungszwecken zur Verfügung zu stellen. Premierminister Netanjahu kündigte damals schon an, Israel zum "digitalen Gesundheitshub" zu machen. Er schwärmt von einem Markt, "der noch gigantischer ist als der Transportmarkt und noch mehr Potenzial hat als der Bereich Cybersicherheit". Kurzum, ein Milliardengeschäftsfeld für die Start-up-Nation Israel, das mit Regierungshilfe in Höhe von umgerechnet mehreren Hundert Millionen Euro erschlossen werden soll.

Heute kann man deshalb in Israel schon einen Blick werfen auf die Zukunft der medizinischen Versorgung und der Gesundheitssysteme. Start-ups treiben den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) bei Krankheitsdiagnosen voran. Andere beschäftigen sich mit Telemedizin, die in der Corona-Zeit einen enormen Schub verzeichnete. So erhielten zum Beispiel ausgesuchte Kunden der israelischen Krankenkassen schon ein Set von Instrumenten, mit denen sie selbst ihren Rachen, den Bauch oder das Herz untersuchen können, um sich dann über eine App auf dem Handy mit ihrem Arzt per Videoschalte in Verbindung zu setzen.

Im größten israelischen Krankenhaus, dem Sheba Medical Center, schätzt man, dass bereits in zehn Jahren 90 Prozent der Operationen von Robotern ausgeführt werden und 70 Prozent der heute stationär behandelten Personen mittels Telemedizin zu Hause bleiben könnten. Der erhoffte Effekt: Die Digitalisierung und Technisierung könnte die ausufernden Kosten im Gesundheitswesen senken.

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