Süddeutsche Zeitung

Jerusalem:Tränengas liegt in der Luft

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Nach dem Flaggenmarsch in Jerusalem flogen 2021 die Raketen. Auch in diesem Jahr kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Israelis und Palästinensern.

Von Peter Münch, Jerusalem

Jerusalem gleicht einem Fahnenmeer. Girlanden sind gespannt in Blau und Weiß, von Laternenmasten, Dächern und Balkonen weht die israelische Flagge. Gegenüber der Großen Synagoge ist eine Bühne mit Fahnen aufgebaut, andernorts dringt laute Musik aus riesigen Boxen. In der Jaffastraße singt zum allgemeinen Wohlgefallen ein Kinderchor in blau-weißen Matrosenanzügen patriotische Lieder. Jerusalem ist in Feierstimmung - und in höchster Alarmbereitschaft.

Im Stadtzentrum sammeln sich an diesem Sonntagnachmittag sehr viele junge Leute und auch ein paar Ältere. Sie rüsten sich zum Marsch in Richtung Klagemauer, mitten durch das muslimische Viertel der Altstadt. Ein Triumphzug soll es sein, doch auf jedem Meter wird er von der Angst begleitet, zum Auslöser einer neuen kriegerischen Konfrontation zwischen Israelis und Palästinensern zu werden.

Denn versammelt haben sich hier die Falken, die national-religiösen Rechten und israelischen Siedler, die beim alljährlichen Flaggenmarsch am Jerusalemtag die Eroberung des arabischen Ostteils der Stadt im Sechstagekrieg von 1967 feiern. 55 Jahre ist das nun her, und dieser Marsch soll den Palästinensern zeigen, wer seither allein das Sagen hat in der für beide Seiten hochheiligen Stadt. Die Fahnen werden dabei regelmäßig auch von lauten Sprechchören begleitet, von Flüchen und rassistischen Slogans. So wird am wahrscheinlich explosivsten Ort der Welt die Lunte ans Pulverfass gelegt - und jeder, der hier heute marschiert, der kann sich noch genau erinnern, wie es im vorigen Jahr zur Explosion kam.

Der Flaggenmarsch anno 2021 führte direkt hinein in den jüngsten Gaza-Krieg. Vorab war die Situation schon angespannt gewesen, der muslimische Fastenmonat Ramadan hatte schlimme Schlachten gesehen mit Hunderten Verletzten. Am Jerusalemtag dann feuerte die Hamas eine Raketensalve auf Jerusalem ab, es war der Startschuss für elf Tage tobende Kämpfe rund um den Gazastreifen sowie für heftige Unruhen in israelischen Städten mit gemischter jüdischer und arabischer Bevölkerung.

"Wir sind bereit für alle Szenarien", erklärte ein Hamas-Sprecher

In diesem Jahr gab es deshalb nur eine Frage: Wird sich die Geschichte wiederholen, mit den gleichen Protagonisten, als blutige Kopie? Für den "perfekten Sturm", wie es die israelischen Medien nannten, war schließlich wieder alles bereitet: eine Welle von palästinensischen Terroranschlägen in den vergangenen Wochen, ein hartes Durchgreifen der israelischen Armee im besetzten Westjordanland, dazu noch die tödlichen Schüsse auf die Al-Jazeera-Korrespondentin Shireen Abu Akleh, für die nach Untersuchungen der Palästinenser, aber auch des amerikanischen TV-Senders CNN, israelische Soldaten verantwortlich gemacht werden.

Aus den Palästinensergebieten waren vor dem Marsch entsprechend schrille Töne zu hören: Die Hamas und der Islamische Dschihad schürten die Angst, dass die Marschierer nicht an der Klagemauer haltmachen, sondern bis hinauf zum Tempelberg ziehen könnten. Die Palästinenser wurden aufgerufen, in Massen zur Verteidigung der dortigen Al-Aksa-Moschee und des Felsendoms anzurücken. Tatsächlich erschienen schon vor dem Marsch größere jüdische Gruppierungen auf dem Areal, angeführt vom rechtsextremen Knesset-Abgeordneten Itamar Ben-Gvir, der kaum eine Gelegenheit auslässt, um in Jerusalem zu zündeln.

"Wir sind bereit für alle Szenarien", erklärte ein Hamas-Sprecher - und um das zu unterstreichen, waren aus dem Gazastreifen am Samstag schon einmal acht Raketen aufs offene Mittelmeer hinaus gefeuert worden. "Ein Test", wie es in Gaza hieß. Um die Drohkulisse zu vervollständigen, meldete sich von Libanon aus noch der Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah mit der Warnung vor einer "gewaltigen Explosion".

3000 Polizisten zum Schutz, mobile Bunker und ein verstärkter Iron Dome

In Israel haben die Drohungen vor allem eins ausgelöst: eine Jetzt-erst-recht-Haltung. Vor solchen Warnungen einzuknicken, glaubt sich kein Regierungschef leisten zu können. Genehmigt wurde für den Flaggenmarsch die provokanteste Route durch das Damaskustor und das muslimische Viertel der Altstadt. 3000 Polizisten wurden zum Schutz der Marschierer aufgeboten, das Raketenabwehrsystem Iron Dome verstärkt und rund um den Gazastreifen mobile Bunker angeliefert.

Gegen 17.30 Uhr ist der Platz vor dem Damaskustor dann prall gefüllt mit einer fahnenschwenkenden Menge. Alles wogt in Blau und Weiß. Tausende sind schon durchs Tor geströmt, Tausende drängen noch von hinten nach. Die Menge singt, die Menge tanzt, und aus einer Gruppe junger Männer heraus erschallen Schmähparolen: "Die Araber sind Hurensöhne." Die Polizei lässt sie gewähren und greift erst ein, als hinter den Absperrgittern ein älterer Mann eine einzelne palästinensische Fahne hochhalten will. Er wird zu Boden geworfen, vier kräftige Polizisten tragen ihn schließlich fort. An diesem Tag, an diesem Ort darf nur die eine Fahne wehen in Jerusalem.

Beim Marsch durch die Altstadt kommt es hier und da zu Krawallen. Es fliegen Flaschen, Steine und Stühle. Tränengas liegt in der Luft. Ein erstes Aufatmen gibt es dennoch um Punkt 18 Uhr. Dies war der Zeitpunkt, zu dem im vorigen Jahr die Raketen flogen. Keine Sirene bis jetzt, das wird als gutes Zeichen gewertet. Doch jeder weiß, die Nacht ist noch lang. Und darauf folgt ein neuer, angespannter Tag.

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