Süddeutsche Zeitung

Proteste in Israel:Hupen gegen Netanjahu

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Mit Blick auf die Infektionszahlen warnt Israels Premierminister, das Land befinde sich bald "an der Kante zum Abgrund". Doch viele Menschen halten den neuen Corona-Lockdown für politisch motiviert. Der Zorn auf den Premierminister wächst.

Von Moritz Baumstieger, München

Dreckige Wäsche wird gewaschen, wieder einmal. Und wieder einmal öffentlich. Israels Premier Benjamin Netanjahu und seine Frau Sara machten schon oft Schlagzeilen, die nur am Rande mit Politik zu tun hatten und viel mit ihrer Vorliebe für Gratisleistungen.

Nachdem sich Israels Öffentlichkeit und Justiz bereits ausgiebig mit geschenkten Luxusgütern wie Zigarren und Champagner oder exzessiven Essensbestellungen in teuren Restaurants beschäftigen durfte, sind jetzt die schmutzigen Klamotten des Paares im Wortsinn Thema: In dieser Woche griff die Washington Post, ein internationales Leitmedium, die in Israel schon seit Langem grassierende Geschichte auf, dass das Ehepaar zu seinen Besuchen in Washington oft mit erstaunlich viel Gepäck anreise. Mit Koffern voller getragener Wäsche, die das Personal des Gästehauses der US-Präsidenten dann waschen oder chemisch reinigen lassen dürfe.

Massenproteste sind verboten, ebenso wie gemeinsames Beten in geschlossenen Räumen

Während US-Offizielle die skurrilen Vorwürfe bestätigten, dementierte Netanjahus Büro und führte an, beim letzten Trip sei etwa nur ein Schlafanzug gereinigt worden.

Doch auch wenn die Kosten für den Wäscheservice die amerikanischen und nicht die israelischen Steuerzahler tragen: Die Geschichten von den Pyjamas des Premiers wären sicher Thema gewesen bei den Zehntausenden, die seit Monaten gegen den Mann demonstrieren, der in mehreren Korruptionsprozessen angeklagt ist, sich aber selbst nach drei Parlamentswahlen binnen eines Jahres noch an der Spitze der Regierung hält. Mit schwarzen Flaggen waren sie Woche für Woche vor Netanjahus Residenz gezogen, um seinen Rücktritt zu fordern, Diffamierungen als Staatsfeinde und Chaoten zum Trotz. Und auch trotz der Gefahr durch das Coronavirus, das Israel wieder voll im Griff hat.

Das Land befinde sich bald "an der Kante zum Abgrund", konstatierte Netanjahu mit Blick auf die steil ansteigenden Infektionszahlen - in Relation zur Größe der Bevölkerung sind sie mit zuletzt 7755 neuen Erkrankten pro Tag die höchsten weltweit. Und so beschloss das Kabinett am Donnerstag Verschärfungen des bereits vor einer Woche verhängten Lockdowns, die am frühen Freitagnachmittag in Kraft traten und 14 Tage gelten. Bis auf existenziell wichtige Industrien soll das Wirtschaftsleben zur Ruhe kommen, Arbeitnehmer sollen zu Hause bleiben.

Und zwar wirklich: Die Bewegungsfreiheit der Bürger wird auf 1000 Meter um ihre Wohnung beschränkt, die Polizei ist angehalten, scharf zu kontrollieren. Wenn sich Menschen versammeln wollen, dürfen sie das nur unter freiem Himmel tun und keinesfalls mehr als 20 Teilnehmer werden.

An Massenproteste gegen den Premier ist also nicht mehr zu denken - und auch nicht an religiöse Zeremonien in geschlossenen Räumen. Die Demonstranten und die Ultraorthodoxen - und damit zwei sehr gegensätzliche Gruppen der polarisierten israelischen Gesellschaft - standen zuletzt bei der Diskussion um das Virus im Fokus: Netanjahu und seine Verbündeten beschuldigten die Protestbewegung, zur Verbreitung des Virus beizutragen, auch wenn es dafür bisher keine Beweise gibt.

Dass sich das Virus aber rasant in der arabischen Minderheit und unter der strenggläubigen jüdischen Bevölkerung verbreitet, ist jedoch durch Zahlen belegt. Dennoch gelang es den Ultra-Orthodoxen bislang, Einschränkungen im religiösen Leben abzuwehren - gleich zwei ihrer Parteien sind Teil der Regierung.

Dieses Mal jedoch betrifft die Verschärfung des Lockdowns auch die Synagogen und Jeschiwas, die Religionsschulen, macht aber eine Ausnahme: Wenn am Sonntag mit Sonnenuntergang Jom Kippur beginnt, der höchste jüdische Feiertag, werden die Gotteshäuser geöffnet, wenn auch nur für begrenzte Besucherzahlen.

Für das Anti-Netanjahu-Lager ist dennoch klar: Wenn Beten erlaubt, Demonstrieren aber verboten sein soll, kann die Verschärfung nur politisch motiviert sein - der Premier wolle so Proteste gegen sich unterbinden. "Der Grund für den Lockdown ist das politisch motivierte, schlampige und hysterische Missmanagement der Regierung", sagte etwa Oppositionsführer Yair Lapid in der Nacht zum Freitag im Parlament. Wissenschaftler, Gesundheitspolitiker und sogar Ronni Gamzu, der Corona-Beauftragte der Regierung, hielten die Verschärfungen für überflüssig.

Als die neue Regel am Freitagnachmittag in Kraft trat, debattierten die Abgeordneten immer noch in einer Marathonsitzung über das Protestverbot. Netanjahu drohte, Demonstrationen durch die Erklärung des Notstandes zu unterbinden, falls das Parlament sich querstellen sollte.

Die Protestbewegung selbst erprobte zu diesem Zeitpunkt längst coronakonforme Formen des Demonstrierens: Am Freitag fuhren viele Unzufriedene in Konvois durch Straßen, hupend und vorbildlich separiert durch Blech und Autoglas. Für den Samstag rief die Bewegung die Menschen nun dazu auf, eben in der Nähe ihrer Häuser zu demonstrieren. In kleinen Gruppen - und mit viel Abstand.

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SZ vom 26.09.2020
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