Süddeutsche Zeitung

Proteste in Hongkong:Macht, Demokratie, Freiheit - jetzt geht es um alles

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Die Massenproteste sind für Peking eine besonders heikle Herausforderung. Am Ende wird das Regime eine weitreichende Entscheidung treffen müssen.

Kommentar von Stefan Kornelius

Zwei Provokationen der Hongkong-Demonstranten sind es, die Chinas Führung zur Weißglut treiben müssen. Zwei Grundthesen des chinesischen Modells werden infrage gestellt - zu viel auf einmal für eine Partei, die derart prinzipiellen Widerspruch weder kennt noch erträgt. These Nummer eins: Politik und Wirtschaft leben in getrennten Welten; Wachstum, Handel, Investitionen funktionieren daher auch in autoritären Systemen. These Nummer zwei: Der Führungsanspruch der Partei ist unteilbar; es gibt nur eine Partei für China, die Macht liegt in ihren Händen.

Die Einparteien-Herrschaft und das chinesische Wirtschaftsmodell als Alternative zur freien Marktwirtschaft in einer freien Gesellschaft sind wuchtige Grundsätze, auf denen das moderne China aufgebaut ist. Diese Grundsätze werden von der Protestbewegung in Hongkong nicht nur infrage gestellt, sondern auch praktisch gegeneinander ausgespielt und damit als falsch entlarvt. Das ist eine mehr als beunruhigende Nachricht für die Führung in Peking, die in sieben Wochen den 70. Jahrestag der Staatsgründung frei von Selbstzweifeln und ohne Demütigung von außen feiern wollte.

Es geht um alles

Bei den Protesten in Hongkong geht es längst nicht mehr um ein Auslieferungsgesetz, es geht um den Grad der Freiheit und der Demokratie. Die Freiheitsversprechen, die den Hongkongern mit der Rückgabe der Kronkolonie an Peking gegeben wurden, siechen dahin. Die gar nicht mehr subtilen Gewaltdrohungen aus Peking bestätigen den alarmierten Grundton der Demonstranten. Vielleicht stand vor neun Wochen wirklich nur ein Auslieferungsgesetz zur Debatte - jetzt geht es um alles.

Hongkongs Bedeutung als Wirtschaftsstandort für China ist zwar mit dem Aufstieg der vielen Mutterlandsmetropolen und neuer, prosperierender Häfen gesunken. Allerdings ist in Hongkong der Rechtsrahmen für die Wirtschaft noch immer einzigartig und bietet ausländischen Investoren eine Sicherheit, die sie sonst nirgendwo in China finden. Besonders die Finanz- und Versicherungsindustrie schätzt an Hongkong kalkulierbare Arbeitsbedingungen. Die Stadt unterhält die viertgrößte Börse der Welt, Auslandsinvestitionen nach China werden noch immer vor allem über Hongkong abgewickelt, Gewinne können in Dollar außer Landes gebracht werden.

Lose-Lose für die Zentralmacht

Will China die Mär vom politikfreien Wirtschaftsraum aufrechterhalten, dann wird es einen Preis dafür zahlen müssen: die Gewährung demokratischer Rechte an die Bevölkerung Hongkongs. Denn darauf zielt der Protest der Demonstranten. Sie haben genau registriert, wie prodemokratische Politiker aus dem Parlament verschwanden, wie der allemal undemokratisch besetzte Legislativrat aus Peking kontrolliert wird und wie die Stadt scheibchenweise kompatibel gemacht wurde zum System aus Peking.

Die Zentralmacht steht also vor einer echten Entscheidung: Entweder sie hält die politische Repression aufrecht, dann verliert sie den ökonomischen Standort Hongkong und - schlimmer noch - den Glauben ausländischer Investoren an die Freiheit der Wirtschaft in einem Einparteiensystem. Oder sie gesteht demokratische Rechte zu und gibt damit den Alleinherrschaftsanspruch der Kommunistischen Partei auf. Wie sie es dreht und wendet: Ein Geschenk zum 70. Geburtstag ist das nicht.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels haben wir fälschlicherweise berichtet, dass in diesem Jahr der 70. Jahrestag der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas wäre. Richtig ist, dass am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China ausgerufen wurde. Die KP wurde bereits 1921 gegründet.

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Quelle:
SZ vom 13.08.2019
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