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Venezuela:Ein 35-Jähriger legt sich mit dem Diktator an

Lesezeit: 2 min

Bis vor wenigen Wochen war Juan Guaidó nahezu unbekannt. Jetzt fordert der 35-jährige Ingenieur Staatschef Maduro heraus - und könnte möglicherweise selbst Präsident werden.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

Juan Guaidó ist streng genommen ein Parlamentspräsident ohne Parlament. Venezuelas Staatschef Nicolás Maduro hat die von der Opposition dominierte Nationalversammlung 2017 entmachtet und durch ein regimetreues Gremium ersetzt, das er "Verfassungsversammlung" nennt. Die Legislative ist de facto abgeschafft, ihr Anführer nur eine Symbolfigur. Guaidó hat in den vergangenen Tagen aber bewiesen, dass man auch mit symbolischer Politik die Welt verändern kann. Manch einer hält ihn bereits für den neuen Präsidenten von Venezuela.

So schnell kann es gehen. Bis vor wenigen Wochen war dieser 35-jährige Ingenieur nahezu unbekannt. 2007 beteiligte er sich an den Studentenprotesten gegen den damaligen Präsidenten Hugo Chávez. Vier Jahre später wurde er erstmals für die Oppositionspartei Voluntad Popular ins Parlament gewählt. Eher aus Mangel an Alternativen - die populärsten Köpfe der Opposition sind entweder im Exil oder stehen unter Hausarrest - stieg Guaidó Anfang Januar zum bislang jüngsten Vorsitzenden des Parlaments auf. Aber schon mit seiner ersten Rede, die er am Freitag in einer öffentlichen Versammlung hielt, machte er Eindruck.

Guaidó hat in wenigen Tagen mehr erreicht als alle seine Vorgänger

Guaidó nannte den Autokraten Maduro, der vergangenen Donnerstag für eine zweite Amtszeit vereidigt wurde, "einen Thronräuber", da er sich auf eine Wahl berufe, die keine gewesen sei, und bezeichnete die Nationalversammlung als "die einzige legitime Kraft, um das venezolanische Volk zu repräsentieren". Außerdem verwies er auf einen Verfassungsartikel, in dem geregelt ist, dass der Parlamentspräsident, also er selbst, übergangsweise nachrückt, falls der Posten des Staatspräsidenten vakant ist. Die meisten Zuhörer fragten sich, was Guaidó damit sagen wollte. Hatte er sich gerade selbst zum Staatschef erklärt? Falls die Verwirrung kalkuliert war, könnte es sich um einen ziemlich schlauen Schachzug gehandelt haben. In jedem Fall hat er damit eine neue Dynamik in den zuletzt etwas eingeschlafenen Machtkampf in Caracas gebracht.

Juan Guaidó scheint zu wissen, dass man nicht Staatspräsident wird, indem man behauptet, man sei es. Tatsächlich beließ er es an der entscheidenden Stelle, der Autoproklamation, bei einer Andeutung. Er bot seine Bereitschaft an, Regierungsverantwortung zu übernehmen für den Fall, dass das Volk, die Streitkräfte und die internationale Gemeinschaft ihn unterstützen. Es klang wie die Beschreibung eines Weges zu einer Übergangsregierung und fairen Neuwahlen.

Üblicherweise macht Maduro mit aufmüpfigen Oppositionellen kurzen Prozess. Es war deshalb keine große Überraschung, dass Guaidó am Sonntag vom Inlandsgeheimdienst aus seinem Auto gezerrt und verhaftet wurde. Überraschend war eher, dass er kurz darauf wieder frei war. Offenbar hat Guaidó mit seinem vage formulierten Machtanspruch das Regime in die Defensive gebracht. Mit subtilen Herausforderungen kann ein Autokrat wie Maduro schlechter umgehen als mit einer direkten Konfrontation.

An internationaler Unterstützung hat Guaidó in wenigen Tagen mehr erreicht als alle seine Vorgänger. Zahlreiche lateinamerikanische Länder der sogenannten Lima-Gruppe, die Maduros Regierung nicht anerkennen, sicherten Guaidó ihre Unterstützung zu. Der Vorsitzende der Organisation Amerikanischer Staaten begrüßte ihn als "Interimspräsidenten von Venezuela". Auch das von der politischen und wirtschaftlichen Krise fast paralysiert wirkende Volk scheint neue Kraft zu schöpfen. Am 23. Januar soll es, einem Aufruf Guaidós folgend, erstmals seit fast zwei Jahren wieder Massenproteste gegen Maduro geben. Das wäre eine günstige Gelegenheit für die bislang regimetreuen Streitkräfte, die Seiten zu wechseln.

Falls irgendwann der Tag kommt, an dem die Venezolaner merken, dass sie ohne Angst demonstrieren können, hätte Maduro wohl verloren. Und Juan Guaidó hätte gewonnen.

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Quelle:
SZ vom 15.01.2019
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