Süddeutsche Zeitung

Großbritannien-Referendum:Der Brexit-Debatte fehlt jede Sachlichkeit

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Die Brexit-Auseinandersetzung wird mit Emotionen geführt und gewonnen. Es ist dieses Klima, in dem der Mord von Birstall geschehen konnte.

Kommentar von Stefan Kornelius

Bemerkenswert, was die britische Polizei im Fall Jo Cox tut. Sie ermittelt. Und sie schweigt. Damit dämpft sie das Hysterie-Potenzial dieses Mordes, der durchaus dazu beitragen könnte, die politische Stimmung in Großbritannien zur Explosion zu bringen. Nach jüngster Erkenntnis war der Täter ein psychisch gestörter Mann mit rechtsextremen Ansichten, der womöglich einen Slogan der EU-Austritts-Befürworter gerufen hat.

Nicht mehr, nicht weniger. Die Briten kennen den Politikermord nur noch aus den Zeiten des IRA-Terrors. Sie haben zwar auch in den vergangenen Jahren vereinzelt brutale Gewalt gegen Politiker gesehen. In einem Land aber, das den zivilen Umgang mit- und die Rücksicht aufeinander zur Staatsraison erhoben hat, gilt die politische Debatte als Kunstform der zivilisierten Auseinandersetzung.

Premierminister und Oppositionsführer liefern sich im besten Fall erkenntnisreiche und unterhaltsame Wortgefechte im Unterhaus - und sind dabei nicht zufällig exakt zwei Schwertlängen voneinander getrennt. Die Abgeordneten hinter ihnen sind, ausgestattet mit der Autorität ihres Direktmandats, im besten Wortsinn Volksvertreter. Wehe, sie vernachlässigen ihre Arbeit im Wahlkreis.

Der Brexit-Debatte mangelt es an Sachlichkeit

Dieses Idealbild des britischen Politikbetriebs wurde in den vergangenen Wochen schwer beschädigt. Noch im September 2014 demonstrierte das Land in geradezu aufreizender Sachlichkeit, wie es über die Abspaltung Schottlands streiten konnte. Schlagartig hat sich dieses Klima nun gewandelt. Die Brexit-Debatte hat alle Sachlichkeit verloren. Maß und Redlichkeit sind abhandengekommen. Die beiden Lager überbieten sich im Vorwurf der Lüge, und es vergeht kein Tag, an dem nicht ein verzweifelter Kampf um Fakten ausgetragen würde, als ließe sich die Dreistigkeit einer Seite (meist des Out-Lagers) doch noch ausgleichen, wenn man nur ein paar Dinge geraderückte.

Darum aber geht es nun nicht mehr. Die Brexit-Auseinandersetzung wird mit Emotionen geführt und gewonnen. Es geht nicht um messbare Vor- oder Nachteile einer EU-Mitgliedschaft, um Britanniens Rolle in oder seine Verantwortung für die Europäische Union, um sehr grundsätzliche Überlegungen der Machtarithmetik des Kontinents. Sondern es geht um Angst: vor Migranten, Ausländern, höheren Steuern, mehr Arbeitslosen.

Der Mord zwingt zur Auseinandersetzung mit dem Hass

In dieser erregten Auseinandersetzung sind schwere Verletzungen entstanden. Der Glaube an die Kraft der Wahrheit ist zerstört, die agitatorische Stärke des Out-Lagers hat die Nation in eine unvergleichbare Aufwallung versetzt. Niedertracht und Unterstellung kreuzen die Klinge mit Beschimpfungen und Drohungen. Es ist dieses Klima, in dem der Mord von Birstall geschehen konnte.

Wenn alle Hemmung in der Sprache fällt, fällt auch der Respekt voreinander - vielleicht gar vor einem fremden Leben. Dieser Mord zwingt, wie auch schon das Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin, zur ernsten Auseinandersetzung mit dem Hass in den Hirnen.

England hat als erstes Land die Meinungsfreiheit in einen Rechtskodex aufgenommen, 1689, in den Bill of Rights. Meinungsfreiheit heißt im Englischen F reedom of Speech, die Freiheit der Rede. Die Abgeordnete Cox war eine Symbolfigur für alle Menschen, die sich diese Freiheit im Rahmen des Rechts nehmen. Um sie herum aber gedieh nur noch die Lüge. Der Tod von Jo Cox steht als Menetekel über der Brexit-Abstimmung. Wie auch immer das Votum ausgeht - die ruhmreichste Stunde der Briten wird es nicht sein.

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SZ vom 18.06.2016
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