Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:"Er war ein guter Gentleman"

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Leigh-on-Sea trauert um David Amess. 37 Jahre lang saß der konservative Abgeordnete für den Wahlbezirk im britischen Parlament - bis ein 25-Jähriger ihn kurz vor der Bürgersprechstunde erstach. Der Täter war kein Unbekannter.

Von Michael Neudecker, London

Eine der vielen Geschichten, die nun beschreiben, weshalb der Abgeordnete David Amess in seinem Wahlbezirk so beliebt war, ist die mit den Teepartys. Southend West, wie der Bezirk heißt, den Amess seit 1997 als Abgeordneter repräsentierte, gehört zu den Regionen in Großbritannien mit dem höchsten Anteil an Menschen, die hundert Jahre oder älter sind. Amess veranstaltete jedes Jahr eine Teeparty für die Hundertjährigen, bei der er selbst mit den Senioren eine Tasse Tee trank und plauderte. Zwischenzeitlich stand das Event sogar im Guinness Buch der Rekorde, für die größte Ansammlung von Hundertjährigen am selben Ort.

"Er war ein guter Gentleman, er hatte ein großes Herz", sagte Julie Everitt am Sonntag der BBC. Wie Everitt erzählten viele Bürgerinnen und Bürger aus Leigh-on-Sea am Wochenende von Sir David Amess. Sie organisierte im örtlichen Park eine Gedenkversammlung, es wurden Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet - in Trauer um den konservativen Abgeordneten, der am Freitagnachmittag in Leigh-on-Sea ermordet wurde, als er gerade seine Bürgersprechstunde eröffnen wollte. Amess, 69, war verheiratet und Vater von vier Töchtern und einem Sohn. Er saß seit 37 Jahren ununterbrochen als Abgeordneter im britischen Parlament.

Die Umstände der Tat werden das Land noch länger beschäftigen: Der Mord wurde von Scotland Yard als Terrorakt eingestuft. Der mutmaßliche Täter habe sich nach seiner Festnahme entsprechend geäußert, hieß es. Der 25-Jährige, der in Großbritannien geboren und aufgewachsen ist, soll nach radikalislamistischen Motiven gehandelt haben, möglich sei eine Verbindung zur Terrororganisation IS.

Der mutmaßliche Täter nahm an einem Präventionsprogramm teil

In manchen britischen Medien wurde früh thematisiert, dass der mutmaßliche Täter somalischer Herkunft ist, ohne dass allerdings klar ist, welche Rolle das für die Tat spielt; die meisten Medien nennen den Täter mit vollem Namen. Der Vater des 25-Jährigen war ein Berater des somalischen Premierministers, er sprach am Wochenende mit der Times in der Wohnung seiner Schwester in Nord-London. Er sei "traumatisiert", sagte der Mann, er habe "nicht im Traum erwartet", dass sein Sohn zu einer derart schlimmen Tat fähig sei.

Der 25-Jährige ist derzeit in Untersuchungshaft in London und wird von den Beamten befragt. Geleitet werden die Ermittlungen von der Anti-Terrorismus-Einheit der Metropolitan Police. Zwar wurden drei Wohnungen in London durchsucht, darunter wohl auch die Wohnung des Täters, allerdings teilte die Polizei mit, man gehe von einem Einzeltäter aus. Offenbar war er bereits vor Jahren dem "Prevent"-Programm der britischen Regierung gemeldet worden, das Menschen vor einer Radikalisierung bewahren soll. Jeder kann einen Mitmenschen dem Programm empfehlen, die Teilnahme ist freiwillig und hat keinerlei strafrechtliche Folgen. Ob und wie lange der 25-Jährige an dem Programm teilnahm, ist bislang unklar.

Die Mail on Sunday berichtete, er habe mehr als eine Woche vor der Bürgersprechstunde seinen Termin gebucht. Er habe, so berichteten Augenzeugen, dann bereits in dem Raum in der Kirche gewartet, in dem die Sprechstunde stattfinden sollte, als Amess am Freitag gegen Mittag eintraf. Als Amess den Raum betrat, habe der Mann ihn unmittelbar angegriffen und ihm mindestens ein Dutzend Stichwunden zugefügt. Danach habe er sich neben den Sterbenden gesetzt und auf die Polizei gewartet, die rund fünf Minuten nach der Tat eintraf und ihn umgehend festnahm sowie das Messer sicherstellte. Die Rettungskräfte versuchten mehrere Stunden, Amess zumindest so weit zu stabilisieren, dass er mit dem bereitgestellten Helikopter in ein Krankenhaus gebracht werden kann, allerdings vergeblich. Gegen 15 Uhr Ortszeit gab die Polizei bekannt, dass Amess seinen Verletzungen erlegen ist.

Boris Johnson reiste an den Tatort nach Leigh-on-Sea

Die muslimischen Gemeinden von Southend verurteilten die Tat scharf. Amess sei ein "herausragender Freund unserer muslimischen Gemeinschaft" gewesen, heißt es in einem Statement. Mehrere Vertreter der muslimischen Gemeinden legten Blumen vor der Methodistenkirche nieder. Premierminister Boris Johnson, Innenministerin Priti Patel, Oppositionsführer Keir Starmer und Unterhaus-Sprecher Lindsay Hoyle reisten am Samstag nach Leigh-on-Sea, um vor der Methodistenkirche Blumen niederzulegen.

Auch Ben-Julian Harrington, der Polizeichef von Essex, legte einen Blumenkranz vor die Kirche, in den er eine handgeschriebene Karte gesteckt hatte. "Essex ist vereint im Respekt für Ihren öffentlichen Dienst", schrieb der Polizeichef, und: "Wir versprechen Ihrer Familie, Ihren Freunden und Kollegen, dass wir unermüdlich für Gerechtigkeit nach dem schrecklichen Verbrechen arbeiten werden". Zunächst bis kommenden Freitag soll der Mann, der David Amess tötete, befragt werden.

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