Süddeutsche Zeitung

Datenanalyse:Wie Labour zuerst die Arbeiter und dann die Wahl verlor

Lesezeit: 3 min

Boris Johnson gilt als großer Gewinner der Wahl. Doch er verdankt seinen Sieg vor allem der Schwäche von Labour. Die Wahlanalyse in Grafiken.

Von Christian Endt, Julian Hosse, Sarah Unterhitzenberger und Benedict Witzenberger

Beim Gewinnen kommt es nicht so sehr darauf an, wie gut man selbst ist. Es reicht schon, besser zu sein als die Anderen. So haben es die Konservativen geschafft, mit einem minimalen Stimmenzuwachs von 1,2 Prozentpunkten ihre Fraktion im Unterhaus um 46 Sitze zu vergrößern und die absolute Mehrheit zurückzuerobern. Die Tories haben das vor allem der Schwäche von Labour zu verdanken, die 59 Sitze abgeben mussten, davon 54 an die Konservativen.

Die Partei von Premierminister Boris Johnson hat ihre Machtbasis in vielen Regionen vergrößern, in anderen aber verlor sie Wahlkreise: Sie hält fast nur Sitze im ländlichen England. London und Wales sind traditionell in Labour-Hand, die Nordiren haben ihre eigenen Regionalparteien. Nun haben die Tories auch fast alle ihre Sitze in Schottland eingebüßt. Sie gingen an den zweiten großen Wahlgewinner, die Scottish National Party (SNP).

Die Wahlergebnisse in den einzelnen Wahlkreisen zeigen, wie dramatisch die Niederlage von Labour ist. Fast überall verloren die Sozialdemokraten Anteile, in Bassetlaw in den englischen Midlands waren es beinahe 25 Prozentpunkte. Für Labour ist es das schlechteste Wahlergebnis der Nachkriegszeit. Im britischen Mehrheitswahlrecht werden diese Verluste hart bestraft. Die folgende Grafik zeigt, wie sich die Wähleranteile in den einzelnen Wahlkreisen im Vergleich zu 2017 entwickelt haben. Eine Welle hin zu den Konservativen, weg von Labour.

Der Brexit spielt eine große Rolle für die Tories

Der Brexit ist seit mehr als drei Jahren das dominierende Thema der britischen Politik und hat auch diesen Wahlkampf wesentlich beeinflusst. Mehr als 70 Prozent jener Wahlkreise, die beim Referendum im Jahr 2016 mehrheitlich für den Austritt aus der EU gestimmt haben, gingen nun an die Konservativen, aber nur knapp 30 Prozent der Remain-Kreise.

Noch deutlicher wird der Einfluss des Brexit, wenn man die Ergebnisse des Referendums den aktuellen Wahlergebnissen gegenüberstellt. Bis auf eine kuriose Ausnahme im hohen Norden Schottlands gewannen die Liberaldemokraten ausschließlich Remain-Wahlkreise, die Konservativen haben ihre Hochburgen dort, wo besonders viele EU-Gegner leben. Labour hat es den ganzen Wahlkampf über vermieden, sich auf eine Position zum Brexit festzulegen - tendenziell ist die Partei für Remain, möchte aber auch den im Referendum von 2016 ausgedrückten Wählerwillen respektieren. Nun hat sie an beide Lager verloren: Weder überzeugte Befürworter noch Gegner der britischen EU-Mitgliedschaft fühlten sich von der Partei gut vertreten.

Die Jagd nach dem Workington-Man

Die frühere Kohle- und Stahlarbeiterstadt Workington an der Westküste im Norden Englands brachte es im Wahlkampf zu besonderer Berühmtheit: Der konservative Thinktank Onward hatte den Workington Man als Zielgruppe für die Konservativen beschrieben. Einen weißen, älteren Mann, der seit Jahrzehnten für Labour stimmt, aber den Brexit befürwortet. Diese Wähler sollte Boris Johnson mit seiner Kampagne ansprechen. Und das gelang. In Workington wurde der Konservative Mark Jenkinson mit über 4000 Stimmen Vorsprung gewählt. Eine Sensation, denn der Ort ist seit 1918 gerade einmal zwei Jahre nicht von Labour-Abgeordneten repräsentiert worden.

Workington ist kein Einzelfall. Die Konservativen konnten einige Sitze erobern, die über Jahre fest in Labour-Hand waren. Dabei haben auch die Arbeiter geholfen, die früher ihr Kreuz selbstverständlich bei Labour gemacht hatten:

Die Unentschiedenheit von Labour in der Brexit-Frage dürfte zwar eine wichtige, aber sicher nicht die einzige Ursache sein. Spitzenkandidat Jeremy Corbyn, der am Morgen nach der Wahl seinen Rückzug ankündigte, hat miserable Beliebtheitswerte. Viele Beobachter sagen außerdem, dass die Konservativen inzwischen eher den Ton der einfachen Leute treffen, während Labour als abgehoben gelte.

Dennoch scheint Labour auch nach der Wahl 2019 die Partei der Menschen in strukturschwachen Regionen zu bleiben. Im Auftrag der englischen Regierung erstellt die Universität Oxford regelmäßig den Deprivation-Index. Er misst verschiedene Variablen, um abzubilden, wie gut oder schlecht es einer Region geht. Beispielsweise die Arbeitslosigkeit, das Bildungsniveau oder die Kriminalitätsrate. Schon bei der vergangenen Wahl gingen die am stärksten abgehängten Regionen sehr stark an Labour, während die Konservativen in Regionen mit geringem Mangel sehr viele Sitze gewinnen konnten. Die Liberaldemokraten gewannen ihre Sitze nur in den starken Regionen. Dieses Muster wiederholt sich auch 2019:

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Quelle:
SZ vom 14.12.2019
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