Süddeutsche Zeitung

Migration:Kleiner Grenzverkehr statt großer Andrang

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Warnungen vor Geflüchteten, die in großer Zahl über Polens Grenze nach Deutschland kommen, haben die Politik aufgeschreckt, der Ruf nach Kontrollen wurde laut. Wie sehen lokale Verantwortliche die Lage? Erkundungen in Frankfurt an der Oder.

Von Jan Heidtmann, Frankfurt/Oder

Muss ja ganz schön was los sein in Frankfurt an der Oder. Jedenfalls gemessen an der Aufmerksamkeit, die die Grenzstadt im Osten Brandenburgs gerade bekommt. Am Dienstag waren das ZDF und Sender aus dem Ausland vor Ort. Am heutigen Mittwoch forderte Oberbürgermeister René Wilke (Linke), die Präsenz der Bundespolizei kräftig zu verstärken; Heiko Teggatz, Vorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft, verlangte gar, temporär wieder Grenzkontrollen einzuführen, auch in Frankfurt/Oder. Warum, das ist auf der Brücke zur polnischen Schwesterstadt Słubice nicht wirklich zu verstehen.

Es herrscht der übliche kleine Grenzverkehr, der am Mittwochmittag nur deshalb etwas größer ausfällt, weil deutsche Autofahrer in Polen vergleichsweise billig Diesel tanken wollen. Vier Beamte der Bundespolizei stehen auf einer Verkehrsinsel an der Frankfurter Seite der Brücke, dahinter lädt ein Zelt zu Corona-Tests ein. Ein Überbleibsel aus dem Lockdown, bei dem es tatsächlich Grenzkontrollen gab. Von Geflüchteten, die über die Route Belarus und Polen nach Deutschland kommen, ist nichts zu sehen.

"Das empfinden manche Bürger als merkwürdig."

Oberbürgermeister Wilke räumt im Telefongespräch ein, dass die Situation aktuell nicht sonderlich bedrohlich sei. Die eine oder andere Gruppe an Geflüchteten habe sich in den vergangenen Tagen in der Stadt verlaufen. "Das empfinden manche Bürger als merkwürdig", meint Wilke. "Das Alarmistische kommt durch die Frage: Wie geht das weiter?" Ihm sei wichtig zu prüfen, "ob Strukturen wieder aufgebaut werden müssen", um eine wachsende Zahl von Geflüchteten bewältigen zu können. Die Lage in Frankfurt an der Oder als Menetekel für eine Situation wie 2015?

Olaf Jansen hat einen großen Teil seines Lebens für eine dänische Anlagenbaufirma gearbeitet. Vor ein paar Jahren dann sattelte er um, seit 2018 leitet er die Zentrale Ausländerbehörde in Eisenhüttenstadt. Wer offiziell als Geflüchteter in Brandenburg strandet, kommt erst einmal hierher in die Erstaufnahmeeinrichtung. "Wir haben einen ziemlich schnell steigenden Zugang", sagt Jansen. "Das erinnert ein bisschen an 2015." Waren es bis März noch 300 Menschen, die im Monat in die Einrichtung kamen, waren es im April bereits 500. Im September seien es dann schon 1500 und im Oktober 2200 Geflüchtete gewesen. "Trotzdem sehen Sie uns hier recht entspannt", sagt Jansen. "Alarmistisch ist nur die Bild-Zeitung. Dafür können wir aber nichts."

"Alles auch eine Frage der Logistik - und die funktioniert."

Jansens Gelassenheit liegt zum einen daran, dass die absoluten Zahlen weit von den 10 000 Flüchtlingen entfernt seien, die 2015 über mehrere Monate nacheinander in Brandenburg angekommen sind. Wichtiger aber sei: "2015 waren viele Bundesländer nicht vorbereitet. Das ist heute ganz anders." Von den 2000 Plätzen hier in der Einrichtung seien derzeit nur 1500 belegt. Die Menschen, die hier ankommen, würden von der Bundespolizei sofort erkennungsdienstlich erfasst und auf die Bundesländer verteilt. Wer nicht in Brandenburg bleiben könne, werde innerhalb von zwei Tagen mit Bus oder Bahn zu seiner nächsten Station gebracht. "Letztendlich ist es alles auch eine Frage der Logistik", sagt Jansen. "Und die funktioniert."

Dennoch kann er die Befürchtungen einiger Politiker verstehen: Kamen im September vor allem junge Männer über die Minsker Route, waren in diesem Monat auch viele Familien mit Kindern, ältere Leute, aber auch allein reisende Frauen darunter. "Das ist ein Zeichen dafür, dass die Route als sicher gilt." Zugleich geht Jansen aber davon aus, dass die Zahl derjenigen, die auf diesem Weg nach Deutschland gelangen können, begrenzt ist. "Das liegt an den Kapazitäten der Schleuser."

Inzwischen seien jedoch bereits mehrere Zehntausend Geflüchtete in Polen unterwegs. Selbst wenn Belarus einlenke und die Route sperre, würden weiter Flüchtlinge nach Deutschland kommen, meint Jansen. "Ich denke, das geht noch so bis Mitte nächsten Jahres." Daran würden auch Grenzkontrollen nichts ändern. So wie Jansen die Menschen erlebt hat, die jetzt über Minsk nach Deutschland kommen, "sind das keine Leute, die unerlaubt herumlaufen wollen", sagt Jansen. Die meldeten sich freiwillig bei der Polizei. Mit Kontrollen schaffe man nur "Probleme für die Menschen, die täglich die Grenze passieren müssen". Darunter auch einige Angestellte bei der Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt.

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