Süddeutsche Zeitung

Ansprache von Macron:Wie es zu den Corona-Maßnahmen in Frankreich kam

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Der Präsident verkündet die Lockerungen, die der Verteidigungsrat ausgetüftelt hat. Politiker in den Kommunen fühlen sich abgeschnitten vom Entscheidungsprozess.

Von Nadia Pantel, Paris

Der Nachteil des präsidialen Atombunkers liegt darin, dass er zu klein ist, um dort auf Abstandsregeln achten zu können. Zu Beginn der Corona-Pandemie fällte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine Entscheidungen noch auf - beziehungsweise in - Jupiter. So heißt der 1940 eingerichtete Raum, der in einem tief unter dem Élysée-Palast verborgenen Keller liegt, und in dem selbst die Minister ihre Mobiltelefone ausschalten müssen. Als sich die wissenschaftlichen Belege mehrten, dass man in schlecht belüfteten, engen Räumen besonders hohe Gefahr läuft, sich mit dem Coronavirus anzustecken, zogen Macron und seine wichtigsten Vertrauten ins Erdgeschoss.

Doch an dem Bunker-Spirit hält Macron weiterhin fest: Über Ausgangsbeschränkungen, Sperrstunden, die Öffnung oder Schließung von Bars oder Kinos entscheidet in Frankreich allein der "conseil de défense", der Verteidigungsrat. Eigentlich sieht die Verfassung vor, dass dieses Gremium einberufen wird, wenn militärische Entscheidungen getroffen werden sollen. Es gehört, genau wie der Kommandoraum Jupiter, zu den Instrumenten für besondere Bedrohungssituationen. Darin, wie sehr Macron auf den Verteidigungsrat setzt, zeigt sich, dass es nicht nur Rhetorik war, als der Präsident im Frühjahr davon sprach, dass das Land sich "im Krieg" gegen das Virus befinde. Macron regiert tatsächlich mit den Mitteln, die zur Kriegsführung zur Verfügung stehen.

Auch Minister erfahren manchmal die neuen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung erst aus dem Fernsehen

Für die Bevölkerung, und auch für alle Politiker und Minister, die nicht zum kleinen Kreis des Verteidigungsrates gehören, bedeutet dies, dass sie die wichtigsten Entscheidungen zur Pandemiebekämpfung erst dann erfahren, wenn der Präsident sie ihnen mitteilt. Also in seinen regelmäßigen Fernsehansprachen. Was im Verteidigungsrat besprochen wird, unterliegt dem Militärgeheimnis. Die Entscheidungsfindung hält sich an eine klar festgelegte Reihenfolge. Erst tagt der Verteidigungsrat, dem der Premierminister und ein reduzierter Kreis an Regierungsmitgliedern angehören. Gesundheits-, Innen- und Wirtschaftsminister machen Vorschläge und stellen Fragen - die Schlussfolgerungen zieht Macron am Ende allein. Anschließend teilt Macron den Franzosen mit, was er entschieden hat. Und am nächsten Tag übernimmt es der Premierminister, die Worte des Präsidenten in Regeln zu übersetzen.

So lief es auch am Dienstag wieder ab. Um 20 Uhr sagte Macron in einer Fernsehansprache: "Der Höhepunkt der zweiten Welle ist vorbei". Die Bemühungen hätten sich ausgezahlt, man müsse sie aber fortsetzen. Einzelhandelsgeschäfte könnten jedoch von diesem Wochenende an wieder öffnen. Bürger müssen zwar weiter Bescheinigungen ausfüllen, wenn sie auf die Straße gehen, allerdings seien Spaziergänge und Sport ab dem Wochenende in einem Radius von 20 Kilometern für drei Stunden erlaubt. Ab dem 15. Dezember soll eine nächtliche Ausgangssperre die Ausgangsbeschränkungen ablösen. Diese sei für Weihnachten und Silvester ausgesetzt. Bars und Restaurants sollen bis 20. Januar geschlossen bleiben.

Vor seiner Rede hatte Macron wie stets mit einem kleinen Teil der Regierung im Verteidigungsrat die aktuellen Infektionszahlen studiert. Und auch die öffentlichen Debatten vor Macrons Auftritt glichen denen vor anderen Ansprachen in den vergangenen Monaten. Die Nachrichtensender berichten weniger darüber, wer welche Maßnahmen für sinnvoll hält, sondern zitieren das Umfeld des Präsidenten mit Spekulationen darüber, was Macron sagen könnte. Dabei liegen die Medien manchmal erstaunlich falsch. So wurde im April breit berichtet, dass Macron die Schulen erst ab September wieder öffnen wolle. Einen Tag nach den Meldungen legte Macron die Rückkehr der Schüler für Mitte Mai fest.

Mit der zweiten Welle kam der Zentralismus mit Macht zurück

Als die Infektionszahlen im Sommer auf einem Tiefpunkt angelangt waren, wirkte es kurz, als wolle Macron seine Strategie ändern. So sollte der neue Premierminister Jean Castex stärker die Bürgermeister und die Regionalregierungen in die Entscheidungsfindung einbinden. Doch als im September die zweite Welle der Pandemie ihren Anfang nahm, kam auch der Zentralismus mit Macht zurück. Von der Entscheidung, alle Bars und Restaurants in Marseille zu schließen, erfuhren die Verantwortlichen in Frankreichs zweitgrößter Stadt erst eine halbe Stunde vor dem Rest der Bevölkerung. Die Regierung verzichte völlig auf Absprachen, klagten die Bürgermeisterinnen von Marseille und Paris.

Auch die Opposition kritisiert, wie klein der Kreis derjenigen ist, die Einfluss auf die Pandemiestrategie nehmen. Sowohl die Republikaner als auch die linke France Insoumise sowie die Grünen werfen Macron vor, den Verteidigungsrat zweckentfremdet zu haben.

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