Süddeutsche Zeitung

Flugzeugabsturz:Verräterische Löcher

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Von Florian Hassel, Warschau

Keine 24 Stunden nach dem Absturz von Flug PS752 landete um 3.30 Uhr des 9. Januar ein ukrainisches Militärflugzeug in Teheran. An Bord waren 45 Kiewer Flugunfall-Spezialisten, Mitglieder von Sicherheitsrat, Geheimdienst, Innen- und Außenministerium. Etliche von ihnen hatten zuvor etwa die Untersuchung des Abschusses von Flug MH-17 im Juli 2014 in der Ostukraine geführt.

Die Kiewer Spezialisten wurden höflich empfangen - der Zugang zu Absturzstelle und Flugzeugwrack aber wurde ihnen verweigert; dies gab der Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates, Alexej Danilow, am Samstag an. Erst nachdem Diplomaten die Iraner daran erinnerten, dass sie nach internationalem Recht verpflichtet seien, Zugang zu gewähren, konnten die Ukrainer mit ihrer Arbeit beginnen.

Die Kiewer Spezialisten waren entsetzt, sagte Danilow: Anstatt nur die Leichen zu bergen und die Absturzstelle ansonsten unberührt zu lassen, um jedes noch so kleine Detail zu fotografieren und zu kartografieren, hatten die Iraner die Wrackteile mit Radladern zu großen Haufen zusammengeschoben. Trotzdem fanden die Ukrainer schnell Wrackteile mit Löchern, wie sie der Durchschlag von Metall-Fragmenten hinterlässt, die Boden-Luft-Raketen bei der Explosion in großer Menge freisetzen.

"Die Iraner verstanden, dass sie keine Wahl hatten"

Zudem fanden die Ukrainer auch Köpfe von Tor-Luftabwehrraketen, die Moskau Ende 2006 an Teheran geliefert hatte. Schon drei Stunden nach Beginn der Untersuchungen habe Kiew gewusst, dass Flug PS752 von den Iranern abgeschossen worden war. "Wir konnten dies öffentlich nicht sofort sagen, weil wir ja weiterarbeiten mussten und wir sehr befürchteten, dass sie unsere Spezialisten zurückschicken würden", sagte Danilow dem ukrainischen Dienst der BBC. Am Freitag schließlich übergaben die Geschäftsträgerin der US-Botschaft in Kiew, Kristina Kvien, sowie Großbritanniens Botschafterin Melinda Simmons Belege an Präsident Wolodimir Selenskij - offenbar zum Aufschalten iranischen Radars auf Flug PS752, den Start zweier Raketen und den Abschuss bestätigende Funksprüche oder Mails der Iraner.

Zudem fanden Kiews Ermittler ein von Metall-Fragmenten, also Schrapnellen, getroffenes Wrackteil des Cockpits der abgeschossenen Boeing 737-800. "Ich denke, die Iraner verstanden, dass sie keine Wahl hatten. Alle Videos und Fotos waren jetzt in der Ukraine, um der Weltöffentlichkeit zu zeigen, was passiert war", sagte Danilow.

Untersuchung und Aufarbeitung stehen freilich erst am Anfang. Bis Ende kommender Woche sollen alle Opfer per DNA-Analyse identifiziert und in ihre Heimatländer - die Ukraine, Kanada, Großbritannien, Schweden, Afghanistan - überführt sein, sagte Präsident Selenskij in einer Fernsehansprache. Die zivil- und strafrechtliche Aufarbeitung folgt erst danach. Sie dürfte Monate oder Jahre dauern. Sowohl Selenskij als auch Großbritanniens Premierminister Boris Johnson sowie Kanadas Premierminister Justin Trudeau sagten nach Teherans Eingeständnis, das Flugzeug irrtümlich abgeschossen zu haben, dies sei lediglich "ein erster Schritt".

Ukraine ermittelt wegen "vorsätzlicher Tötung und Flugzeugzerstörung"

Nötig sei "eine umfassende, transparente und unabhängige internationale Untersuchung", sagte Johnson. Auch Trudeau unterstrich: "Ein ziviles Passagierflugzeug abzuschießen ist entsetzlich. Iran muss volle Verantwortung übernehmen. Kanada wird nicht ruhen, bis wir die Verantwortungsübernahme, Gerechtigkeit und den Abschluss haben, den die Familien verdienen." Bei dem Absturz starben 57 iranischstämmige Kanadier; Dutzende weitere Opfer studierten in Kanada.

Zwar befahlen in Teheran der Generalstaatsanwalt und der Justizchef eine Untersuchung durch die Militärstaatsanwaltschaft. Doch ob diese vollständig nachzeichnet, warum der Luftraum nicht gesperrt wurde, wer auf welcher Ebene den Abschuss befahl und ob etwa Irans Oberster Führer Ayatollah Ali Chamenei informiert war, steht dahin.

Kiew verlangt von Teheran nicht nur Entschädigung für die Familien der Opfer und die Erstattung der Kosten für das zerstörte Flugzeug. Sondern Ukraines Generalstaatsanwalt Ruslan Rjaboschapka ermittelt auch wegen "vorsätzlicher Tötung und Flugzeugzerstörung". Er hat zudem nicht nur dem Generalstaatsanwalt in Teheran, sondern auch seinen Kollegen in Kanada, Großbritannien und Schweden eine gemeinsame internationale Ermittlung vorgeschlagen. Kanadas Premier Trudeau erklärte bereits, er bestehe darauf, dass auch Ermittler seines Landes an den Ermittlungen teilnähmen.

Für das, was jetzt wohl kommt, gibt es einen Präzedenzfall - dank der Regierung in Teheran

Schon im Fall des im Juli 2014 durch das russische Militär abgeschossenen Passagierflugzeugs MH-17 in der Ostukraine war ein von den Niederlanden geführtes internationales Ermittlerteam in der Lage, den Abschuss trotz Moskauer Dementis fast lückenlos zu rekonstruieren. Am 9. März soll der Prozess vor einem Bezirksgericht in Den Haag beginnen.

Sollte Iran unkooperativ sein, könnten Kanada oder die Ukraine das Land auch vor dem Internationalen Gerichtshof, ebenfalls in Den Haag, verklagen - auf Grundlage der Chicago-Konvention über die internationale Zivilluftfahrt und der "Montreal-Konvention zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Zivilluftfahrt". Diesen Weg wählte Iran selbst, nachdem der amerikanische Lenkwaffenkreuzer USS Vincennes am 3. Juli 1988 vom Persischen Golf aus eine iranische Passagiermaschine auf dem Weg von Teheran nach Dubai irrtümlich abschoss. Alle 290 Menschen an Bord starben, doch Washington weigerte sich zunächst, eine Entschädigung zu zahlen. Knapp sieben Jahre nach Erhebung der Klage gab die amerikanische Regierung 1996 klein bei. Sie zahlte Iran 131,8 Millionen Dollar Entschädigung.

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SZ vom 13.01.2020
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