Süddeutsche Zeitung

Frankreich und die Flüchtlinge:Deutschland unter Besserwisser-Verdacht

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Die europäischen Nachbarn ärgern sich in der Flüchtlingsfrage über moralischen Druck aus Berlin. Auch in Frankreich wächst die Angst vor einer neuen Übermacht.

Kommentar von Christian Wernicke

Vor zwei Wochen, da unternahm Frankreichs Premierminister Manuel Valls einen Ausflug in die Wirklichkeit. Der Sozialist war nach Calais gekommen, jener Hafenstadt, wo 3000 Flüchtlinge vorm Eurotunnel gestrandet sind. Diese Menschen träumen von England, Frankreich ist ihr Alb. Sie hausen in Schlamm und Dreck auf einer früheren Müllhalde, genannt "neuer Dschungel".

Premier Valls sah die Not und glaubte, vermeintlich Großes zu verkünden. Der Hälfte dieser Miserablen wolle seine Nation nun Schutz gewähren: in 120 Zelten, mit 1500 Feldbetten, aufgestellt mit fünf Millionen Euro Zuschuss aus Brüssel. Nur, bis dahin werden noch allerlei Herbstschauer und Winterstürme über Calais hinwegziehen: Das neue Lager kommt im Januar 2016. Frühestens.

In Deutschland würde man sich die Augen reiben. Zelte gleich dutzendweise zu errichten, Notunterkünfte mal für tausend, mal für fünftausend Flüchtlinge auszuheben - das muss dieser Tage jede mittelgroße Stadt bewältigen. An jedem Wochenende, ohne Promi-Besuch aus der Hauptstadt. Und sofort. Die Anekdote vom Elend in Calais illustriert, wie anders Deutschlands Nachbarn den Flüchtlingsstrom betrachten. An etlichen EU-Partnern - Franzosen wie Spaniern, Polen wie Briten - geht diese Völkerwanderung nicht nur geografisch völlig vorbei.

Dort sieht man die Ankunft täglich Abertausender aus dem Morgenland nur im Fernsehen. Und dort wird dieses menschliche Drama nicht als humanitäre Herausforderung begriffen, sondern als Last. Oder, schlimmer noch, als eine Bedrohung, die Angela Merkel und die deutschen Gutmenschen dem vereinten Europa eingebrockt haben.

Gefühlt in deutscher Kollektiv-Haft

Man fühlt sich - in Paris wie in Warschau, in Kopenhagen wie in Budapest - in Kollektiv-Haft genommen. Das Diktum Berlins, den Kriegsflüchtlingen aus Nahost eine Zuflucht in Europa zu bieten, wird als Diktat empfunden. Prompt wuchern die Ressentiments gegenüber der Kanzlerin, dieser angeblichen "Kaiserin" Europas. Inklusive historischem Soupçon: "Die Deutschen haben uns unsere Juden genommen, jetzt geben sie uns die Araber", twitterte neulich ein französischer Konservativer. Eine Infamie, sicherlich. Aber eine, die die Stimmung trifft.

Es ist schon das zweite Mal in diesem Jahr, dass Europa erlebt, wie Angela Merkel dem Kontinent Prinzipien aufdrückt. In der Euro-Krise, so die Lesart nicht nur in Frankreich, hat die protestantische Pfarrerstochter den darbenden Griechen unerbittlich Schuld und Sühne gepredigt - und das Euro-Land rigorose Selbstverantwortung gelehrt.

Erdrückende Übermacht

Jetzt, in der Flüchtlingskrise, scheint sie Europa erneut umerziehen zu wollen: zu Offenheit und Menschenrecht (auf Asyl), zu Humanität und - per EU-Verteilungsquote - zu just jener Solidarität, die sie beim Geld verweigerte.

Deutschlands Übermacht erdrückt, nun also doppelt. Bisher war es nur die ökonomische Kraft, die Neid säte. Nun beweisen die Deutschen obendrein moralische Überlegenheit. Das schmerzt und schürt den Besserwisser-Verdacht.

In Frankreich verbreiten Medien wie Politiker aller Lager, die Mitmenschlichkeit der Deutschen sei in Wahrheit nur eine Folge ihrer Kinderfeindlichkeit. Deutschland zeuge, anders als Frankreich, schlicht zu wenig Nachwuchs - und müsse deshalb nun "Sklaven für sein Großkapital" anlocken. Absurd? Die krasse Formulierung mag der Hetze des Front National und der extremen Linken entstammen. Aber so ähnlich denken viele Franzosen.

Lieber nur Christen aufnehmen

Frankreich plagen über zehn Prozent Arbeitslosigkeit. Die Lebensbedingungen der Kinder und Enkel maghrebinischer Einwanderer sind deprimierend. Der soziale Stress, der das Heimatland der Menschenrechte prägt, ist so lähmend wie abweisend. Nicht nur in Osteuropa, auch in Frankreich verkünden Bürgermeister, sie wollten keine Fremden aufnehmen - "und wenn doch, dann nur Christen".

Auch mit dieser maroden Stimmung seiner Nachbarn muss Berlin umgehen. Andernfalls wird nicht gelingen, was die Kanzlerin angesichts der kontinentalen Gewissensprobe als Aufgabe formuliert hat: "Europa muss sich als Ganzes bewegen." An dieser Front leistet Berlin bisher wenig Überzeugungsarbeit. Es rächt sich die alte Schwäche Angela Merkels, die sie chronisch plagt: Es genügt nicht, Gutes zu tun oder das Richtige zu verlangen - man muss es auch gut und richtig erklären.

Berlin und Paris hätten hier eine wichtige Mission zu erfüllen. Gerade weil die Länder so unterschiedlich fühlen, wäre eine gemeinsame Flüchtlingspolitik nötig, um Europa insgesamt zu überzeugen. Asylrecht und Menschenwürde, Hilfe und Solidarität sind ureuropäische Prinzipien. Europa wird nicht genesen, wenn sie nur als deutsche Wesen daherkommen.

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SZ vom 21.09.2015
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