Süddeutsche Zeitung

Flüchtlinge auf dem Weg in die EU:Tödliche Hürde Mittelmeer

Lesezeit: 5 min

Seit Jahresbeginn starben mehr als 3000 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer. Trotzdem steht das italienische Programm zur Seenotrettung vor dem Aus. Aktivisten wollen nun Druck auf die Politik ausüben - mit einer Hotline.

Von Martin Anetzberger

Die EU-Innenminister trafen sich an diesem Donnerstag in Luxemburg. Ausgerechnet im kleinsten Benelux-Staat, dem die Nordsee wesentlich näher ist als das Mittelmeer. Weit entfernt also vom Schauplatz der großen Tragödie, die das Hauptthema des Treffens war - dem Ansturm tausender verzweifelter Flüchtlinge auf Europa.

Menschenrechtsaktivisten drängen auf schnelle Hilfe. Thomas de Maizière und seine Kollegen sind dagegen eher besorgt über Ungleichgewichte bei der Verteilung der Flüchtlinge innnerhalb der EU.

Für viele Europäer ist der Mittelmeerraum ein gewaltiges Erholungsgebiet; zu Tausenden liegen die Touristen im Sommer an den Stränden oder versuchen auf Kreuzfahrtschiffen, den Alltag für ein paar Tage hinter sich zu lassen. Für Tausende Menschen aus den Krisenregionen in Afrika und dem Nahen Osten ist das Binnengewässer hingegen ein Fluchtweg - in eine Welt ohne Angst und Not. Doch auf diesem Weg verlieren viele ihr Leben. Allein in den ersten neun Monaten des laufenden Jahres starben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge 3072 Menschen bei dem Versuch, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren. Deutlich mehr als in den Jahren zuvor. Die italienischen Behörden registrierten demnach in den ersten acht Monaten des Jahres 2014 etwa 112 000 Einwanderer, das sind dreimal mehr als im gesamten Jahr 2013.

"Lackmustest" für die EU

Menschenrechtsorganisationen attackieren die Europäische Union scharf. Vor dem Innenminister-Treffen in Luxemburg hatten Amnesty International (AI) und Human Rights Watch (HRW) mehr Anstrengungen gefordert, um Flüchtlinge im Mittelmeer zu retten. "Während die EU ihre Grenzen höher und höher zieht, weichen immer mehr Migranten und Flüchtlinge auf das Mittelmeer aus", erklärte der für die EU-Institutionen verantwortliche AI-Direktor Nicolas Beger. Die bisherige Antwort der EU auf die zahlreichen Flüchtlingsdramen im Mittelmeer sei "schändlich". Judith Sunderland von HRW bezeichnete das Treffen als "Lackmustest" dafür, ob die EU es ernst meine mit ihrem Versprechen, "Leben zu retten".

Eines der Flüchtlingsdramen spielte sich vor einem Jahr vor der italienischen Insel Lampedusa ab. Am 3. Oktober 2013 ertranken mehr als 360 Menschen. Als Reaktion startete Italien damals den Einsatz "Mare Nostrum". Seitdem patrouillieren Schiffe der italienischen Marine und Küstenwache bis weit ins Meer. Doch damit soll noch in diesem Jahr Schluss sein, denn Italien fühlt sich von seinen EU-Partnern allein gelassen und will den monatlich zwischen sechs und neun Millionen Euro teuren Einsatz einstellen.

Die EU sieht das anders und forderte Italien zur Fortsetzung seines Engagements auf. Der geplante - wesentlich billigere - EU-Einsatz "Triton" unter Führung der Grenzagentur Frontex könne Mare Nostrum nicht ersetzen, erklärte Innenkommissarin Cecilia Malmström kürzlich. Triton habe "keinen Einfluss auf die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Kontrolle ihres Teils der EU-Außengrenzen und ihre Verpflichtung, Menschen in Not zu retten". Frontex hat bei den Mitgliedsstaaten zwei Flugzeuge, drei Patrouillenboote sowie sieben Teams angefordert, um Flüchtlinge zu befragen und ihre Identität festzustellen.

Der Name Frontex fällt derzeit auch noch in einem anderen Zusammenhang. Erstmals soll die Grenzagentur im Oktober bei einer europaweiten Polizeiaktion mit dem Ziel mitwirken, illegal eingewanderte Menschen an Bahnhöfen, Flughäfen und Autobahnen zu finden. Solche "Joint Police Operations" gibt es für gewöhnlich zweimal im Jahr, diesmal unter Federführung Italiens. Mehrere tausend Polizisten aus etwa 25 Mitgliedsstaaten sind an der zweiwöchigen Aktion beteiligt, die am 13. Oktober beginnt.

Die Mission Triton wird dagegen erst im November starten. Dabei soll Frontex ein Gebiet von etwa 30 Seemeilen vor der italienischen Küste überwachen. Das ist ein Bruchteil des Gebiets, das bisher von den Italienern über Mare Nostrum abgedeckt wurde. Mit Seenotrettung hat das aus Sicht Helmut Dietrichs von der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration wenig zu tun. Damit beschränke man sich auf die "Abschottung", Frontex sei überhaupt nicht auf Seenotrettung ausgelegt. Eine Entwicklung, die er "mit großer Sorge" betrachte, sagt er im Gespräch mit SZ.de. Er wirft der EU auch jetzt schon vor, Flüchtlinge im Mittelmeer sterben zu lassen. Hunderte Tote seien zu beklagen, weil nahegelegene Schiffe trotz Notrufen nicht zu Hilfe kämen, sagt er.

Den wohl bekanntesten Fall deckte der italienische Journalist Fabrizio Gatti auf. Wenige Tage nach dem Unglück von Lampedusa ertranken mehr als 260 Menschen, weil die italienische Marine sich nicht zuständig fühlte. Ein anderer Fall aus dem Jahr 2011, bei dem 61 Menschen starben, obwohl auch hier Hilfe möglich gewesen wäre, wurde vom Europarat untersucht (lesen Sie hier den Bericht).

Wegen der Zuspitzung der Lage und dem drohenden Ende von Mare Nostrum, dem Programm, das er als "unglaublich gut" bezeichnet, hat sich Dietrich mit anderen Aktivisten eines internationalen Netzwerks zusammengetan und ein Notruftelefon für Mittelmeer-Flüchtlinge in Seenot eingerichtet (lesen Sie hier die Mitteilung). Die Hotline wird an diesem Freitag freigeschaltet und soll mit Hilfe von Flyern und Mitarbeitern vor Ort im Mittelmeerraum bekannt gemacht werden. Per Satellitentelefon können die Flüchtlinge dort vom Mittelmeer aus anrufen. Dietrich zufolge verfügen viele Flüchtlingsboote über ein solches Telefon. Am anderen Ende der Leitung kann bei Bedarf sofort ein Übersetzer zugeschaltet werden, der die Sprache der betroffenen Menschen spricht. Anhand der GPS-Daten, die das Satellitentelefon überträgt, können die Aktivisten die genaue Position feststellen und die zuständige nationale Seenotrettung informieren. Mit diesem Vorgehen erfahren die Aktivisten aus erster Hand über Fälle von Seenot. Außerdem wollen sie den Druck auf die betroffenen Staaten erhöhen, bei Notrufen der Flüchtlinge Hilfe zu schicken. Denn: "Häufig wird nicht gehandelt", klagt Dietrich.

Aufmerksamkeit ist die Waffe der Aktivisten

Selbst retten können die Aktivisten nicht. Ihre Waffe im Kampf um das Leben von Seeflüchtlingen kann nur die Aufmerksamkeit sein. Sollten die Behörden auf einen derartigen Hilferuf nicht reagieren, will das Netzwerk in der Öffentlichkeit Alarm schlagen, "damit daraus ein politisches Problem entsteht", sagt Dietrich.

Als größtes Problem scheinen die EU-Innenminister derzeit allerdings die Verteilung von Flüchtlingen über die Mitgliedstaaten zu sehen. Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen appelliert vor allem Deutschland an die Ankunftsländer im Mittelmeerraum. "So wie die Lage jetzt ist, kann sie nicht weitergehen", sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière beim Treffen der Innenminister in Luxemburg. Allein auf Deutschland entfielen 30 Prozent der Asylanträge. De Maizière forderte die Mittelmeerländer auf, für eine vollständige Registrierung der ankommenden Menschen zu sorgen, damit diese nicht einfach in andere EU-Länder wie Deutschland weiterreisen könnten, um dort Asylanträge zu stellen. Wenn die Ankunftsländer ihre Verpflichtungen erfüllten, könne über eine zeitlich befristete Neuverteilung von Flüchtlingen in Europa gesprochen werden. Das italienische Programm Mare Nostrum kristisierte er als Anreiz für Flüchtlinge: "Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen", sagte de Maizière.

Für diese Sichtweise hat Helmut Dietrich überhaupt kein Verständnis und verweist auf das Beispiel Syrien. Die Nachbarländer Türkei, Jordanien und Libanon nähmen Hunderttausende Flüchtlinge auf. In Europa werde schon wegen ein paar tausend diskutiert. De Maizières Aussagen nennt er "zynisch". Den Mitgliedsstaaten in der EU wirft er vor, den Tod der Flüchtlinge aus Syrien bewusst in Kauf zu nehmen. Schließlich sei das Mittelmeer das am dichtesten überwachte Seegebiet der Welt, vor allem auch aus der Luft. "Man weiß sehr genau, was dort passiert." Die Chancen für Syrer auf Asyl seien sehr gut. Das Mittelmeer werde bewusst "als tödliche Hürde" eingesetzt, sagt er.

Mit Material von AFP

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2165782
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
Süddeutsche.de
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.