Süddeutsche Zeitung

Asylrecht:Europäische Staaten warnen vor humanitären Visa

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Von Wolfgang Janisch, Straßburg

Mit großem Nachdruck haben mehrere Staaten den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte davor gewarnt, für Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten einen Anspruch auf humanitäre Visa zu schaffen. Damit könnte jeder Mensch irgendwo auf der Welt an jeder europäischen Botschaft Asyl beantragen, sagte der britische Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox in einer mündlichen Verhandlung in Straßburg. "Das kann nicht sein!" Frankreichs Vertreterin Florence Merloz warnte vor einer "unhaltbaren Ausweitung der Reichweite der Europäischen Menschenrechtskonvention". Dies würde, angesichts der zahlreichen Konflikte überall auf der Welt, zu einer Blockade der diplomatischen Vertretungen führen. Aus Sicht Belgiens würde das gesamte EU-Asylsystem beschädigt, wenn ein einzelnes Land plötzlich Visa an Asylbewerber ausgäbe. Weitere Staaten haben ebenfalls ihre ablehnende Haltung zu Protokoll gegeben.

Geklagt hat eine Familie aus dem syrischen Aleppo, die 2016 in der belgischen Botschaft in Libanon Kurzzeitvisa für Belgien beantragt hatte. Dort wollten sie um Asyl nachsuchen und dadurch dem damals noch heftig tobenden Krieg um die nordsyrische Stadt entkommen, ohne sich auf eine gefährliche Fluchtroute zu begeben. In Belgien wollten sie bei Freunden unterkommen. Überraschend gab ihnen ein belgisches Gericht zunächst recht, doch die Behörden verweigerten ihnen die Visa.

Radikale Neuerung im System

Ein Anspruch auf ein humanitäres Visum wäre eine radikale Neuerung im System von Asylrecht und Menschenrechten. Denn bisher beschränkt sich die Geltung der Europäischen Menschenrechtskonvention im Wesentlichen auf das Territorium der 47 Mitgliedstaaten des Europarats. Zwar hat der Gerichtshof davon Ausnahmen zugelassen. 2012 verurteilte er Italien, dessen Küstenwache 35 Meilen vor Lampedusa Flüchtlinge abgefangen und nach Libyen verfrachtet hatte. Damit hatte Italien unter anderem gegen das Refoulement-Verbot verstoßen, das Abschiebungen in Länder untersagt, in denen den Betroffenen Verfolgung droht.

Anhängig ist zudem ein Verfahren wegen sogenannter Pushbacks an der spanischen Exklave Melilla. In beiden Fällen geht es aber um Zurückweisungen. Die syrische Familie dagegen will sich einen Zugang zum "sicheren Hafen Europa" erstreiten - mit demselben rechtlichen Argument: Sonst drohe ihnen eine "unmenschliche oder erniedrigende Behandlung", die nach Artikel 3 der Menschenrechtskonvention untersagt ist. Ein Urteil wird in einigen Monaten erwartet.

Beim Menschenrechtsgericht (das nicht zur EU gehört) gibt es keinen Präzedenzfall, wohl aber auf EU-Ebene. Vor zwei Jahren hat Generalanwalt Paolo Mengozzi gefordert, ein Anspruch auf humanitäre Visa müsse bestehen, wenn den Betroffenen die "tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung von extremer Schwere" drohe. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg schloss sich seinem Schlussantrag nicht an: Aus EU-Recht lasse sich kein Anspruch herleiten. Visa zu erteilen, sei Sache der Staaten.

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Quelle:
SZ vom 25.04.2019
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