Süddeutsche Zeitung

Demokratie:Stärkt die Parlamente!

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Ob Brexit oder gelbe Westen: Die westlichen Demokratien stecken in der Krise. Volksentscheide werden keine Heilung bringen. Nötig ist etwas anderes.

Kommentar von Stefan Ulrich

Eines eint Theresa May und ihre Opponenten in Brüssel: die Ratlosigkeit über das britische Parlament. Die Abgeordneten haben diese Woche zwar klargestellt, was sie nicht wollen - den von May mit der Europäischen Union ausgehandelten Brexit-Deal -, nicht aber, was sie wollen. Einen ungeregelten EU-Austritt? Einen geregelten? Einen harten oder sanften? Einen Aufschub? Oder gar keinen Brexit? Gewiss ist nur die Ungewissheit, die dieses hoch erregte Unterhaus in ganz Europa verbreitet. Der moderne Parlamentarismus, als dessen Wiege das englische Parlament gilt, durchlebt ausgerechnet in London eine finstere Stunde.

Und das ist nur ein Beispiel für die Krise, mit der die repräsentative Demokratie weltweit kämpft. Parlamente und klassische Parteien werden von Populisten als Teile einer volksfernen Kaste verächtlich gemacht. Mehr oder weniger charismatische Führungsfiguren umgehen unter reger Nutzung von Facebook und Twitter jene Instanzen, die sich zwischen sie und "das Volk" stellen könnten: Neben Abgeordneten und Parteien sind dies Medien, Gewerkschaften, unabhängige Richter und Experten. Sie stehen im Ruch, Teil einer globalen Elite zu sein, die die "normalen Bürger" verachtet.

Donald Trump hat mit solcher Propaganda Erfolg, ebenso Brasiliens neuer Präsident Jair Bolsonaro. Oder die Gelbwesten, die auf den Straßen Frankreichs protestieren.

Das Chaos im House of Parliament scheint diese Kräfte zu bestätigen. Wird da nicht gerade der reine Volkswille verwässert, wie er im Brexit-Referendum zum Ausdruck kam? Zeigt sich nicht wieder, dass es "denen da oben" egal ist, was "die da unten" wollen? Der Frust über die klassischen liberalen Demokratien, die den Westen prägten, sitzt tief. Korruption und Überheblichkeit mancher Politiker, die Komplexität der Probleme von der Unternehmensbesteuerung bis zum Klimawandel, die Langsamkeit demokratischer Entscheidungen, eine ungerechte Verteilung des Reichtums und das Abwandern von Souveränität hin zu übernationalen Organisationen wie der EU nähren den Unmut und schaffen Wutbürger.

Als Ausweg fordern viele: mehr direkte Demokratie wagen. Bürgerbegehren, Volksentscheide, Wahlplattformen und Protestbewegungen werden als Heilmittel empfohlen. Und ist es nicht richtig, die Menschen zu ermächtigen, direkt zu bestimmen, wie sie leben wollen? Die Erfahrung lehrt Skepsis. Und da braucht man nicht bis zur Weimarer Republik zurückzugehen. Zu viel direkte Demokratie kann offene Gesellschaften zerstören, den inneren Frieden gefährden und Machtmissbrauch erleichtern.

Beispiel Brexit: Die EU-Gegner gewannen das Referendum dank Lügen, Hysterie und ihrer Appelle an nationale Größenträume. Die hochkomplexe Frage, wie Großbritannien mit Europa leben soll, wurde einer Augenblicksstimmung des zum Teil ungenügend informierten Volkes zur Entscheidung überlassen. Jetzt ist das Land gespalten, der Zusammenhalt des Königreichs bedroht. Und den Preis des Brexit werden diejenigen bezahlen, für deren Wohl die EU-Gegner angeblich kämpften: die "einfachen Leute".

Direkte Demokratie ist manchmal geboten, oft aber gefährlich

Beispiel USA: Donald Trump hat das Plebiszit der Präsidentschaftswahl mit den bekannten Mitteln gewonnen: Angstmacherei, etwa in der Ausländerpolitik; Schüren des Nationalismus; Ausgrenzung aller Gegner als "Volksfeinde". Amerika wird lange darunter leiden.

Beispiel Italien: Der sozialliberale Premier Matteo Renzi war der erste Regierungschef seit Langem, der die Defizite des Landes tatkräftig anging und unpopuläre, aber nötige Reformen wagte. Dann stellte er sich einem Referendum, das er verlor. Nun regieren die Populisten der Lega und der Fünf Sterne, die viel Geld, das Italien nicht hat, im Volk verteilen - und die Zukunft des Landes ruinieren.

Ja, Volksentscheide können geboten sein, zum Beispiel, wenn sich ein Volk ein neues Staatswesen gibt. Sie können hilfreich sein, wenn über lokale Themen entschieden wird, über die die Wähler gut informiert sind, zum Beispiel über eine Olympia-Bewerbung. Oft aber ist direkte Demokratie gefährlich. Sie lässt auf komplexe Fragen nur zwei simple Antworten zu: Ja oder Nein. Sie spaltet das Volk, weil die Sieger alles und die Verlierer nichts bekommen. Sie begünstigt Populisten, die den Leuten das Blaue vom Himmel herunter versprechen und behaupten, alles könnte so einfach sein. Und sie umgeht all jene - Parteien, Berufspolitiker, Experten - die Macht verteilen, Debatten versachlichen, Kompromisse schmieden, Argumente wägen und differenzierte Antworten auf schwierige Fragen finden können.

Das Gebot der Zeit lautet daher: mehr Parlamentarismus, mehr indirekte Demokratie wagen. Die Parlamente müssen gestärkt, das Europaparlament zu einer machtvollen Volksvertretung der Europäer ausgebaut werden. Parteien müssen sich von überholten Schemata wie dem Rechts-links-Muster lösen und auf die Themen konzentrieren, die die Zukunft der Menschen prägen: Umweltschutz, Arbeit in Zeiten künstlicher Intelligenz, Kontrolle der Finanzwelt und internationaler Konzerne durch die Politik, Frieden erhalten, Bildung, soziale Sicherheit von der Kindheit bis zum Alter. Legislaturperioden könnten verlängert werden, um Koalitionen mehr Ruhe zum Arbeiten zu geben. Abgeordnete sind so mit fachlich versierten Mitarbeitern auszustatten, dass sie die Regierung wirklich kontrollieren können. In einer Demokratie am Parlament zu sparen, ist fatal.

Und das Volk? Soll es nur alle paar Jahre Kreuzchen auf Wahlzetteln machen dürfen? Keineswegs. Zu den Vorzügen des Internets gehört es, dass die Bürger ihre Wünsche und Kritik leicht, schnell und ungefiltert ausdrücken können. Sich nur zu empören und auf Eliten zu schimpfen, ist allerdings arg wenig. Und es kann zu Kurzschlüssen wie dem Brexit führen, der nun Volk, Regierung und Parlament der Briten gleichermaßen überfordert.

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Quelle:
SZ vom 19.01.2019
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