Süddeutsche Zeitung

Bundestagsdebatte:Zwischen Virus und Wasserwerfern

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Formal entscheiden die Abgeordneten, wann die Regierung welche Schutzmaßnahmen erlassen darf. Tatsächlich aber geht es um die Deutungshoheit in der Krise. Über den Tag im Parlament und auf den Straßen.

Von Jan Heidtmann und Henrike Roßbach, Berlin

Axel Schäfer hat ein Plakat geschrieben, mit der Hand: "Ich bin SPD-Abgeordneter. Ich sage ja zum Infektionsschutzgesetz. Ich stelle mich der Diskussion." Schäfer sitzt seit 2002 im Bundestag. Für heute hat er sich etwas Besonderes vorgenommen. Er will sich sein Plakat um den Hals hängen und rausgehen zu den Menschen, die zu Tausenden nach Berlin gekommen sind, um gegen die Novelle des Infektionsschutzgesetzes zu protestieren. Am Nachmittag will der Bundestag es verabschieden.

Die Mehrheit der Parlamentarier hält dieses Gesetz für notwendig; es soll die Befugnisse der Regierung in der Pandemiebekämpfung, die möglichen Grundrechtseinschränkungen, auf eine solidere rechtliche Grundlage stellen. Einige der Menschen da draußen halten es für ein neues "Ermächtigungsgesetz".

Schäfer, 68, war schon auf vielen Demonstrationen, in Brokdorf und bei den großen Friedensversammlungen. "Jetzt bin ich auf der anderen Seite", sagt er, "und ich finde, wir müssen uns den Menschen stellen." Es ist ein ziemlich mutiger Schritt. "Meine Mitarbeiter haben mich gewarnt, das zu tun."

"Er ist der Einzige, der sich traut", sagt ein Demonstrant

Viele der angemeldeten Demonstrationen waren vom Bundesinnenminister verboten worden. Die Polizei hat das Regierungsviertel weiträumig abgesperrt, mehr als 2000 Beamte sind im Einsatz. Nach den Erfahrungen von Ende August, als vielleicht hundert Protestierende die Stufen des Berliner Reichstagsgebäudes erklommen hatten, und nach dem Desaster in Leipzig vor wenigen Tagen will die Polizei kein Risiko eingehen.

Am späteren Vormittag haben sich vor dem Brandenburger Tor mehrere Tausend Demonstranten versammelt. Schäfer nähert sich der Absperrung, er will jetzt gerne sein Plakat entrollen und diskutieren. Doch die Protestierenden drängen gegen die Absperrungen, sie trommeln, lärmen und skandieren "Lasst uns rein" und "Wir sind das Volk".

Man hat sich inzwischen fast schon gewöhnt an diese kuriose Mischung bei den Anti-Corona-Protesten: Alte, Junge, Bürgerliche, Esoteriker. Weiter hinten ruft ein vielleicht sechsjähriges Mädchen rhythmisch "Er-mäch-tigungs-ge-setz". Es sind Regenbogenfahnen zu sehen, einige Demonstranten tragen kleine blaue Wimpel mit Friedenstauben darauf. Ein bizarrer Kontrast zu dem aggressiven Gebaren mancher Protestierenden. Schäfer zieht weiter zur Marschallbrücke, wo sich Hunderte versammelt haben. Die Stimmung ist etwas friedlicher, Schäfer tritt an die Absperrung und hängt sich sein Plakat um.

"Er ist der Einzige, der sich traut", sagt einer der Demonstranten. Doch ein Mann mit einer blauen Maske mit AfD-Logo dominiert schnell die Diskussion. Aus der Menge wird nun gepfiffen und gebrüllt. Schäfers Versuch, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, scheitert schnell. Er muss jetzt zur Debatte in den Bundestag. "Man soll es wenigstens versuchen", sagt Schäfer sichtlich irritiert. "Auch wenn es dann schiefgeht."

Doch auch drinnen, unter der Glaskuppel des Reichstagsgebäudes, ist es mit dem Miteinander an diesem Tag so eine Sache.

Um 13.03 Uhr, der CDU-Bundesgesundheitsminister hat gerade den ersten Satz seiner Rede hinter sich, entrollen die Abgeordneten der AfD Plakate, mit denen sie die vermeintliche Beerdigung des Grundgesetzes an diesem 18. November betrauern. Während Jens Spahn die Unterbrechung für einen Schluck Wasser nutzt, erklärt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) den "lieben Kolleginnen und Kollegen", dass im Parlament unterschiedliche Meinungen mit Argumenten ausgetragen würden.

Seiner "dringenden Bitte, ich kann das aber auch gleich entscheiden", die Schilder wieder einzupacken, kommen die Parlamentarier unterschiedlich schnell nach. Dann ist der Normalzustand im Bundestag wiederhergestellt.

Wobei das mit dem Normalzustand natürlich relativ ist an einem Tag, an dem ein Hubschrauber über dem Regierungsviertel kreist, Wasserwerfer am Pariser Platz auffahren und der Parlamentarische Geschäftsführer der größten Oppositionsfraktion den Gesetzentwurf, der auf der Tagesordnung steht, eine "Ermächtigung der Regierung" nennt, "wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab". Formal geht es darum, wann die Regierung in der Pandemie welche Schutzmaßnahmen erlassen darf, das soll der Entwurf genauer regeln als bisher. Tatsächlich aber geht es an diesem Tag um die Deutungshoheit in der Krise.

Die AfD hat sich offenbar entschieden, auf welcher Seite der Absperrung sie stehen will. Eine "arrogante Missachtung des Parlaments" attestiert Geschäftsführer Bernd Baumann der Bundesregierung, weil es auch mit diesem Gesetz ziemlich schnell durch erste Lesung, Anhörung und Ausschüsse ging. Mit höhnischem Gelächter quittieren seine Fraktionskollegen die Feststellung von Unions-Geschäftsführer Michael Grosse-Brömer, es handle sich um ein "vollkommen geordnetes Gesetzesverfahren". "Bei der Bundestagswahl wird abgerechnet", ruft ein AfD-Abgeordneter.

Unterdessen wird draußen auf der Straße klar, was der Sprecher der Gewerkschaft der Polizei, Benjamin Jendro, gemeint hat, als er am Morgen sagt: "Es wird eine Mammutaufgabe heute." Gemessen an der Zahl an Demonstranten hat Berlin schon mehr gesehen als die wenigen Tausend vor dem Brandenburger Tor. Doch sie wollen nicht weichen. Die Polizei hatte sie mehrmals auf Maskenpflicht und Abstandsregeln hingewiesen. "Lass uns mit deinem Scheiß in Ruhe", antwortete ein Protestteilnehmer, es scheint die Haltung der meisten hier zu sein.

Kurz nach zwölf löst die Polizei die Versammlung auf und positioniert zwei Wasserwerfer zwischen Demonstranten und Reichstagsgebäude. Doch das Wasser, das nun auf die Protestierenden niederregnet, scheint sie in ihrem Widerstand nur zu bestärken. "Wir bleiben hier" und "Merkel soll weg" skandieren viele. Andere rufen "Wasser-Werfer-Diktatur". Auch Hooligans und Rechtsextreme seien nun dabei, sagt ein Sprecher der Polizei. Was die Demonstranten hier zwischen US-Botschaft und Reichstag jedenfalls vereint, ist, dass sie sich nicht vertreiben lassen wollen.

Das mit den Wasserwerfern schafft es bis in den Plenarsaal. Der AfD-Abgeordnete Petr Bystron nutzt eine Zwischenfrage dazu, um eine Nachricht von "den Menschen mitten in der Demonstration vor dem Reichstag" zu verlesen, die sich inzwischen Wasserwerfern gegenüber sähen und "wie Vieh" zusammengetrieben würden. "Das ist der Vorgeschmack, was Sie hier mit Ihrem Gesetz durchzupeitschen versuchen", ruft er.

Zu Beginn der Debatte hatte FDP-Geschäftsführer Marco Buschmann bereits von den "radikalen Freunden" der AfD gesprochen, die da draußen die Wege ins Parlament blockieren wollten, und der Partei entgegengehalten: "Sie wollen diese Institution in den Schmutz ziehen, weil sie sie hassen."

Gegen 14 Uhr stimmen dann die Abgeordneten über den Gesetzentwurf ab - die erste von vier namentlichen Abstimmungen. Am Ende sind 415 Parlamentarier dafür, 236 dagegen, acht enthalten sich.

Auch Axel Schäfer von der SPD hat für die Novelle des Infektionsschutzgesetzes gestimmt. Steht ja auch so auf seinem Plakat, das er sich am Vormittag um den Hals gehängt hatte. Doch das Zusammentreffen zwischen Volk und Volksvertreter beschäftigt ihn nachhaltig. Weil so wenige Demonstranten Maske getragen hätten. Aber vor allem war es dieser kollektive Ruf "Lasst uns durch", der den Abgeordneten beschäftigt. Direkt neben dem Bundestag.

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