Süddeutsche Zeitung

China:Ein Essay gegen Xi Jinping

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Von Christoph Giesen, Peking

Chinas Internetbehörde ist gründlich, was nicht für die Augen und Ohren der Chinesen bestimmt ist, wird rigoros zensiert und weggesperrt. Auch der Essay "Unsere derzeitigen Ängste und unsere Hoffnungen", den der chinesische Rechtswissenschaftler Xu Zhangrun vor wenigen Tagen im Internet veröffentlicht hat, ist längst nicht mehr zugänglich in China. Dennoch ist eine Debatte entbrannt.

In vielen Freundeskreisen wird Xus Text herumgereicht, immer wieder ist zu hören: "Was für ein mutiger Mann, dieser Xu Zhangrun". Denn: Kaum jemand hat es bisher gewagt, Staats- und Parteichef Xi Jinping öffentlich derart scharf zu widersprechen. "Alle Bürger, einschließlich der gesamten bürokratischen Klasse, sind zutiefst verunsichert über die derzeitige Richtung des Landes", schreibt Xu. "Wer hätte gedacht, dass nach vier Jahrzehnten der Politik der Offenen Tür und der Reformen unser ehrwürdiges Land erneut einen Personenkult erleben wird?"

Lehre aus der Mao-Zeit: Keine Alleinherrscher mehr

Xis Namen nennt Xu Zhangrun in seiner Abrechnung nicht ein einziges Mal, aber jeder weiß, wem die Kritik gilt. Fast jeden Tag steht Xis Name auf den Titelseiten, und sein Gesicht erscheint allabendlich in den Fernsehnachrichten. Das Xi-Jinping-Denken ist seit der jüngsten Tagung des Nationalen Volkskongresses im Frühling dieses Jahres auch in der Parteiverfassung verankert, erste Lehrstühle unterrichten das Fach bereits an Universitäten - was auch immer das genau sein mag.

Es ist der Bruch Xi Jinpings mit Chinas Reformpatriarchen Deng Xiaoping, der viele besorgt. Nach Maos Tod war es Deng, der das Land an die Weltwirtschaft ankoppelte und das Fundament für das atemberaubende Wirtschaftswachstum der vergangenen 40 Jahre legte. Dengs wichtigste Lehre aus dem Chaos der vorangegangenen Jahre: Es sollte keinen Alleinherrscher mehr geben, stattdessen ein Politbüro, das wie ein Vorstand eines Unternehmens agiert. Ein Gremium, in dem jeder zwar seine zugewiesene Aufgabe hat, aber jeder zu jeder Zeit ersetzbar ist. Auch die Verfassung ließ Deng deshalb ändern, nach zwei Amtszeiten sollte Schluss für den Präsidenten sein und der Staffelstab übergeben werden an Jüngere. Etliche Jahre ging das gut.

Die Erfahrungen aus der Kulturrevolution haben auch den Juristen Xu Zhangrun geprägt. Geboren 1962, hat er als Kind jene Jahre erlebt, die China in seinen Grundfesten erschüttert haben. Nie mehr sollte sich so etwas wiederholen, das hat diese Generation verinnerlicht. Xu lehrt an der Tsinghua-Universität, einer der beiden renommiertesten Hochschulen des Landes, auch in Bonn hat er als Gastwissenschaftler einige Zeit verbracht, derzeit befindet er sich in Japan. Promoviert hat Xu an der University of Melbourne in Australien.

Seine Spezialität ist das Verfassungsrecht. Und genau jene hat der Nationale Volkskongress im März geändert: Xi ließ nicht nur seine Ideologie dort verankern, sondern ließ sich auch de facto die lebenslange Präsidentschaft zusichern. Jeglicher Protest dagegen wird scharf unterbunden.

Sorge vor dem neuen chinesischen Nationalismus

Dabei gärt es gewaltig in China. Jüngst erschütterte ein Impfskandal das Land - Hunderttausende Dosen, die Babys zur Grundimmunisierung verabreicht worden waren, sind im besten Fall wirkungslos geblieben. Seit Monaten liefert sich Xi ein Fernduell mit US-Präsident Donald Trump, gegenseitig überbieten sie sich mit Androhungen für Strafzölle. Läuft der Konflikt aus dem Ruder, steht die Welt vor einem Handelskrieg unbekannten Ausmaßes. Vor allem die chinesische Exportwirtschaft könnte Schaden nehmen. Millionen Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel.

Der Zwist mit den USA, schreibt Xu, habe die Schwächen des chinesischen Systems offengelegt. Mit ein Grund für die Streitereien sei auch der neue Nationalismus, den Xi propagiert. China solle seinen angemessenen Platz auf der Weltbühne einnehmen, fordert der Parteichef. Genau das aber hatte Deng Xiaoping immer abgelehnt. Wirtschaftlich wachsen - ja, aber als Zampano in der internationalen Politik mitmischen, das chinesische Modell exportieren oder die bestehende Weltordnung herausfordern - auf keinen Fall. "Ich habe gesagt, was ich sagen musste", schließt Xu seinen Essay. "Ich bin jetzt in der Hand des Schicksals."

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SZ vom 03.08.2018
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