Süddeutsche Zeitung

Brexit-Abstimmung:"Die Stimmung wird immer gereizter"

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Historiker Anthony Glees erklärt, was auf die Briten nach dem erwarteten Nein des Parlaments zum Brexit-Deal zukommt. Und warum ihn die Lage an Russland vor der Revolution erinnert.

Interview von Thomas Kirchner

Am Dienstagabend will das britische Unterhaus über den Brexit-Vertrag mit der EU abstimmen - es ist ein historischer Moment. Die meisten Beobachter rechnen mit einer Niederlage für Premierministerin Theresa May. Kommt dann der befürchtete harte Ausstieg aus der EU? Oder hat May noch andere Optionen? Der Historiker und Politologe Anthony Glees von der Universität Buckingham klärt die verworrene Lage.

SZ: Herr Glees, wenn Sie wetten müssten: Wie viel Geld würden Sie darauf setzen, dass Theresa May den Deal durchs Parlament bringt?

Glees: Ach, wenn ich das wüsste. Wir haben chaotische Zeiten in Großbritannien: eine politische Krise, eine Regierungskrise, jetzt auch eine Staatskrise. Vorhersagen sind daher schwierig bis unmöglich.

Trotzdem: Wie wahrscheinlich ist ein Ja?

Alle hier glauben, dass May verliert. Eine Frage wird sein, wie hoch die Niederlage sein wird, wie viele Stimmen ihr fehlen. Sie tut gerade alles dafür, auch noch Labour-Leute für sich zu gewinnen.

Und was passiert nach dem Nein?

Mays Strategie war es immer, eine endgültige Entscheidung so lange wie irgend möglich hinauszuzögern. Damit ist nun eigentlich Schluss. Aber vielleicht erweitert sie diese Strategie. Vielleicht fragt sie noch einmal die EU, ob in der Nordirland-Frage etwas gemacht werden kann, um wenigstens die Abgeordneten der nordirischen DUP ins Boot zu holen.

Kann die EU überhaupt etwas bieten?

In Wahrheit war das nie der Fall. Denn wenn Großbritannien die angeblichen Vorteile eines Austritts nutzen und die Zölle der EU unterbieten wollte, dürften Nordirland und Irland nicht im selben Zoll- und Wirtschaftsraum bleiben. Das gilt auch für das zweite Brexit-Versprechen, die Einwanderung zu stoppen. Bei einer offenen Grenze könnten Migranten leicht nach Nordirland gelangen, also nach Großbritannien.

Das heißt, ein Brexit ohne Deal rückt näher?

Das ist eine Option. Wir marschieren dem 29. März entgegen, beißen die Zähne zusammen, drücken uns die Daumen. Es wäre ein gewaltiger Schlag. Das Pfund würde noch einmal enorm abwerten. Die Preise würden deutlich steigen, wir importieren ja fast ein Drittel unserer Nahrungsmittel.

Trotzdem hält ein Drittel der Briten diesen Weg für den besten.

Ja, wir marschieren ohne Plan. Wir müssen uns für eine Revolution wappnen, herbeigeführt von einem kleinen Teil der Tory-Fraktion, der sich für einen harten Brexit ausspricht. Das erinnert an die Bolschewiken bei der Oktober-Revolution - auch eine extremistische Minderheit, der das Volk glaubte und folgte.

Und die zweite Variante?

May bittet die EU um eine Verlängerung der Austrittszeit nach Art. 50. Das wäre eine Vernunftlösung. Leider wird die Debatte von Unvernunft beherrscht.

Das Unterhaus hat Mays Spielraum stark eingeschränkt: Nach einem Nein hätte sie nur noch drei Sitzungstage Zeit, eine Alternative vorzuschlagen. Und das Parlament könnte eigene Vorschläge machen. Kommt es nun doch zu einem zweiten Referendum, wie manche vermuten?

Das ist tatsächlich wahrscheinlicher geworden. Laut Umfragen ginge es genau anders herum aus, also 52:48 für einen Verbleib. Die Spaltung dieses armen Landes würde das nicht beseitigen. Die Stimmung wird immer gereizter. Die Abgeordnete Jo Cox starb 2016 nach einem Attentat. Die Brexit-Gegnerin Anna Soubry wurde kürzlich vor dem Parlament als Nazi beschimpft, von angeblichen "Gelbwesten", die eigentlich Ukip-Aktivisten sind. Niemand griff ein. Das ist auch ein Zeichen einer vorrevolutionären Zeit: Die Polizei weiß nicht mehr, wie sie gewählte Vertreter des Volks beschützen soll.

Hat May Fehler gemacht, oder stand sie von vornherein auf verlorenem Posten?

Ihr großer Fehler war es, 2017 die Wahl anzusetzen. Damals verlor sie ihre Mehrheit, die jetzige Lage ist eine Folge davon. May glaubt, eisern ihre Pflicht erfüllen zu müssen, um dann von der Bühne abzutreten. Ich bewundere das, sie ist eine schlaue Frau, aber keine charismatische Anführerin.

Würde eine Neuwahl etwas ändern, wie sie Labour fordert?

Den jüngsten Umfragen zufolge blieben die Konservativen bei 40 Prozent, Labour hat noch einmal fünf Prozent verloren. Und das trotz einer Regierung, die nicht regieren kann! Mit Jeremy Corbyn an der Spitze würde Labour im Parlament zusammenschrumpfen. Außer er verzichtet darauf, Premier werden zu wollen. Dann könnte es eine Labour-Regierung geben.

Wie sehen Sie die politische Zukunft in Ihrem Land?

Mir macht das Angst. Es ist eine Lage wie in Frankreich oder Russland vor den Revolutionen. Man weiß nicht, wo das enden wird. Und es geht über Großbritannien hinaus. Nehmen Sie den Bolschewismus oder den italienischen und deutschen Faschismus: Sie hatten große Folgen für den Rest Europas. Meine Sorge ist, dass sich andere europäische Staaten von uns anstecken lassen. Damit würde eine historische Errungenschaft, der zwei Generationen währende Frieden auf dem Kontinent, aus dem Fenster geworfen.

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