Süddeutsche Zeitung

Brexit:In London ticken die Uhren lauter

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Beim Scheidungsfall Brexit müssen mehr als 100 000 Seiten gemeinsamer Vorschriften wieder auseinanderdividiert werden. Die Zeit drängt - und Brüsseler Beamte staunen über die Briten.

Von Daniel Brössler, Brüssel

Sie wissen eigentlich nicht, wo sie anfangen sollen. Wenn jene Beamte, die sich in Brüssel auf die Brexit-Verhandlungen vorbereiten, den Abgrund schildern wollen, in den sie gerade blicken, können sie zahllose Beispiele nennen.

Verordnung 1008/2008 zum Beispiel. Sie enthält die "gemeinsamen Vorschriften für die Durchführung von Luftverkehrsdiensten". Das klingt trocken, sorgt aber bisher dafür, dass es zum Beispiel billige Flüge von Gatwick nach Tallinn gibt, wo sich die Altstadt-Bars großer Beliebtheit britischer Reisender erfreuen.

Der "gemeinsame Besitzstand" rechtlicher Vorschriften der EU füllt weit mehr als 100 000 Seiten. Das ist der Aktenberg, der auf dem Tisch liegt vor einer Scheidung, für die der EU-Vertrag gerade einmal zwei Jahre vorsieht. Die Zeit drängt also, weshalb man in Brüssel hofft, dass es wenigstens endlich los geht. Nächste Woche könnte es so weit sein.

Könnte. Noch immer ist nicht klar, wann die britische Premierministerin Theresa May die Union nach Artikel 50 des EU-Vertrages offiziell über die Austrittsabsicht ihres Landes unterrichtet. May hat zugesagt, den Brief im Laufe des März auf den Weg zu bringen. Jeder Tag Verzögerung wird den Verhandlungsstart schwieriger machen. Kommission und Rat in Brüssel haben einen vorläufigen Zeitplan, der allerdings nur funktionieren dürfte, wenn das Schreiben aus London bis Ende nächster Woche eintrifft. Dafür müsste May rechtzeitig das Brexit-Gesetz durchs Parlament bringen. Das Oberhaus verpasste ihr am Dienstagabend einen Dämpfer. Für den Start der eigentlichen Verhandlungen sind auf Seiten der EU zwei Voraussetzungen zu erfüllen: Die 27 Staats- und Regierungschefs müssen Leitlinien für die Verhandlungen beschließen. Außerdem benötigt die EU-Kommission ein Verhandlungsmandat. Für die Verabschiedung der Leitlinien wird EU-Ratspräsident Donald Tusk einen Brexit-Gipfel einberufen müssen, für den in schon mal der 6. und 7. April im Gespräch sind. Bis Mitte Mai dürfte dann das Mandat verabschiedet sein, Ende Mai könnten die Verhandlungen beginnen.

In Brüssel wird inständig gehofft, dass die Briten wenigstens diesen Zeitplan nicht vermasseln. Zum einen geht es um die EU-Jubiläumsfeier am 25. März in Rom. Im großen Rahmen soll der 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge begangen werden. Geplant ist eine optimistische Erklärung zur Zukunft der EU.

Nicht erwartet wird aus naheliegenden Gründen Premierministerin May. Würde sie aber in den Tagen direkt vor der Party die Scheidungsunterlagen schicken, gälte das als unfreundlicher Akt. Ungelegen käme die britische Erklärung aber auch in der Woche nach der Rom-Feier. Der Termin für den Brexit-Gipfel wäre dann praktisch nicht mehr zu halten. Zwar existiert in den Schubladen des Rates ein vertraulicher Entwurf für die Verhandlungs-Leitlinien. Der allerdings basiert nur auf der Vermutung, was May wohl in ihren Austrittsbrief hineinschreiben wird. Erst wenn der Text da ist, können die Abstimmungen zwischen den Hauptstädten beginnen.

Bevor die 27 Bosse sich zum Gipfel treffen, soll sichergestellt sein, dass es eine einheitliche Linie gibt - andernfalls begänne der Brexit-Prozess für die EU mit einem Desaster. Schon jetzt stellen sich einige in der EU darauf ein, dass der heikle Gipfel ausgerechnet irgendwann Ende April abgehalten werden muss - also zwischen der ersten und zweiten Runde der französischen Präsidentenwahl.

Beamte in Brüssel wundern sich über die Briten

In jedem Fall bleibt nach Beginn der Verhandlungen wenig Zeit. EU-Verhandlungsführer Michel Barnier hat klargestellt, dass das Brexit-Abkommen im Oktober 2018 fertig ausgehandelt sein muss, um genügend Zeit für die Zustimmung der Mitgliedstaaten und des Europäischen Parlaments zu lassen. Für die eigentlichen Verhandlungen blieben dadurch "weniger als 18 Monate".

Die entscheidenden Fragen werden in dieser Eile nicht zu klären sein. Als schwierigster Brocken gelten die Rechte der in Großbritannien lebenden EU-Bürger. Beamte und Diplomaten in Brüssel wundern sich darüber, dass die Briten ruhig wirken. "Die Uhr tickt", sagt einer, "und sie tickt in London lauter als hier."

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SZ vom 08.03.2017
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