Süddeutsche Zeitung

Brexit-Abkommen:Wagt May einen vierten Anlauf?

Lesezeit: 3 min

Von Thomas Hummel

Auch an diesem 30. März ging also in London die Sonne auf, genau um 5.42 Uhr Ortszeit, wie vorhergesagt. Sonst aber war an diesem Samstag nichts so wie prophezeit. Zumindest nicht so wie von der eigenen Premierministerin angekündigt: Mehr als 100 Mal hatte sie im Parlament betont, dass dies der erste Tag seit 46 Jahren sein würde, an dem Großbritannien nicht mehr Teil der Europäischen Union sein würde. Jetzt ist der Tag da und die Briten sind immer noch drin. Was für viele allerdings schlimmer ist: Niemand, auch nicht Premierministerin Theresa May, traut sich bislang, öffentlich eine Prognose abzugeben, wie es jetzt weitergehen wird.

"Die Konfusion in London und Brüssel, was nun aus dem Brexit werden wird, ist maximal", urteilt Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Am Freitag hat das britische Parlament den von der eigenen Regierung mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrag ein drittes Mal abgelehnt. Premierministerin May versucht seit Monaten alles, um die Kritiker in der eigenen Konservativen Partei und beim Koalitionspartner, der nordirischen DUP, zu einem Ja zu bewegen. Sie droht, sie umgarnt, zuletzt bot sie sogar ihren Rücktritt an für den Fall, dass ihr Deal durchgeht. Doch es half nichts. Diesmal fiel ihr Plan mit 286 zu 344 Stimmen durch. "Mays Strategie ist gegen die Wand gefahren", urteilt von Ondarza. Und nun?

Wer darauf hoffte, Theresa May würde nun zurücktreten, würde Neuwahlen ausrufen, würde loslassen und den Weg frei machen für neue Ideen und Konzepte, der wurde enttäuscht. Das Gegenteil ist der Fall. Am Samstag spekulierten die meisten Beobachter in London, dass sie vorhat, ihren Deal in der kommenden Woche ein viertes Mal im Unterhaus zur Abstimmung vorzulegen. Die Zeitungen Guardian, Times oder Daily Mail kamen allesamt zu diesem Ergebnis und zitierten dazu Quellen aus dem Regierungsapparat. Ein Sprecher wies darauf hin, dass die Ablehnung in den drei Abstimmungen immer kleiner wurde, von anfangs 230 über 149 zu jetzt 58 Stimmen. Sein Fazit: "Wir bewegen uns immerhin in die richtige Richtung."

Was für Außenstehende absurd klingt, könnte für Theresa May und ihre Leute wieder einmal einen letzten Ausweg weisen. Eine letzte Hoffnung, die harten Brexiteers in ihrer Partei mögen doch einsehen, dass alle anderen Varianten noch weniger ihrer Vorstellung entsprechen. Wie May am Freitag sagte: Sie fordere manche Mitglieder des Parlaments auf, diesem Deal zuzustimmen, obwohl er nicht ganz ihren Ansichten entspricht - aber so etwas wie das kleinere Übel darstellt.

Dieses Kalkül treibt May seit Wochen an. Neues Drohpotenzial erhofft sie sich offenbar am Montag, wenn das Parlament ähnlich wie in der vergangenen Woche ausloten möchte, welcher alternative Weg eine Mehrheit erhalten könnte. Es zeichnet sich ab, dass eine Zollunion mit der EU oder sogar ein zweites Referendum zum Brexit die größten Chancen haben. Die Regierung May kann sich aber keinesfalls hinter diese Forderungen stellen, weil sie dann den Zerfall ihrer Partei riskiert. Mindestens 100 Abgeordnete der Konservativen würden gegen einen solchen Plan revoltieren.

In London heißt es: Sollte etwa die Zollunion im Parlament zur Abstimmung stehen, könnte May ihren Deal ebenfalls einbringen und eine Art Stichwahl provozieren. In der Hoffnung, die Brexiteers und die DUP fallen endlich um. Ob es soweit kommt? Unklar. Und ob es selbst dann für eine Mehrheit reicht, ist ebenfalls unklar, weil auch einige Konservative eine Zollunion für erstrebenswert halten.

Während bei der EU viele Stimmen behaupten, ein No-Deal-Szenario sei immer wahrscheinlicher, rechnet in London kaum einer mehr mit diesem Schreckensfall. Sollte Mays Deal nicht doch noch auf wundersame Weise eine Mehrheit erhalten, dürften die Briten eher eine längere Verschiebung ihres Austrittsdatums beantragen. Im Gespräch ist etwa Ende Dezember 2019. Nach Einschätzung von Nicolai von Ondarza könnte das "der präferierte Mittelweg" sein, dem auch die EU zustimmen kann. Denn dann müssten die Briten zwar an den Wahlen zum europäischen Parlament teilnehmen, doch bis Jahresende stünden außer der Wahl der EU-Kommission keine relevanten Entscheidungen in Brüssel mehr an. Die Verhandlungen über den nächsten Haushaltsplan beispielsweise gingen erst 2020 in die entscheidende Phase.

In Großbritannien würde eine solche Verlängerung wohl zu Neuwahlen führen. Die Vorstellung, Mays Rücktritt alleine löse den Knoten, erscheint trügerisch. Denn die Polarisierung im Land hat massiv zugenommen, die Stellungen zwischen EU-Gegnern und EU-Freunden sind bis weit in die Gesellschaft hinein verhärtet. Das führt derzeit dazu, dass sich die meisten Nachfolgekandidaten bei den Konservativen eher als harte EU-Gegner geben, weil sie in dieser Position größere Chancen in ihrer Wählerschicht sehen. Sollte aber zum Beispiel Boris Johnson zum Premierminister aufsteigen und eine harte Linie vorgeben, rechnen Beobachter mit Austritten von weiteren etwa 20 Konservativen aus der Fraktion, wodurch die Regierung keine Mehrheit mehr im Unterhaus hätte. Auch daraus würden sich Neuwahlen ergeben.

Das Wirrwarr und die Ränkespiele führen in Großbritannien indes zu einem Vertrauensverlust in das demokratische System. "Die Phase, in der die Menschen das alles als harmloses politisches Theater sehen, ist vorbei", erzählt von Ondarza. Die britische Regel des "the winner takes it all" habe beim Brexit nicht funktioniert. Denn bislang gebe es für keinen der vielen Brexit-Wege eine Mehrheit, was das Land ratlos zurücklässt. Kompromisse und Konsens-Findung zwischen den Positionen ist im System kaum vorgesehen. Und so zitiert der Guardian ein Mitglied der Regierung am Freitag nach der Abstimmung auf die Frage, wie es nun weitergehe: "Alle raus, der Letzte macht das Licht aus."

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