Süddeutsche Zeitung

Joe Biden gewinnt US-Wahl:Von nun an geht es wieder um Amerika

Lesezeit: 4 min

Joe Biden wendet sich mit einer versöhnlichen ersten Rede als gewählter Präsident an alle Landsleute. Er will jetzt die Spaltung überwinden. Die künftige Vizepräsidentin Harris verspricht Loyalität.

Von Thorsten Denkler, New York

Da kommt er auf die Bühne gejoggt, mit Maske im Gesicht, und so fix, als wäre er noch ein junger Spund und nicht 77 Jahre alt. Als könne er das Amt, das auf ihn wartet, gut und gerne 20 Jahre lang ausüben. Die Bühne ist bereitet für die erste Rede von Joe Biden als dem gewählten 46. Präsidenten der Vereinigten Staaten. Auf dem Parkplatz des Chase Center in Wilmington, Delaware, dem Heimatort von Biden.

Er ist fast am Ziel eines lang gehegten Traums. Dreimal hat er versucht, Präsident zu werden. Als er das zweite Mal scheiterte, machte ihn Barack Obama zu seinem Vizepräsidenten. So gerne wäre er schon 2016 für die Demokraten angetreten. Aber da sollte es Hillary Clinton werden. Mit dem bekannten Ergebnis. Jetzt, mit bald 78 Jahren, ist er so gut wie am Ziel.

Biden schaut vor allem auf Autos, als er an das Pult tritt. Einige Hundert stehen auf dem Parkplatz, ausgerichtet in Richtung Bühne. Darin, darauf, dazwischen und daneben stehen, sitzen, tanzen und jubeln Menschen, wie auf einer Party in einem Autokino. Nur mit Live-Programm. Diese Art von Kundgebung ist zu einem Markenzeichen seiner Wahlkampagne geworden.

"Leute!", beginnt Biden. "Die Menschen im Land haben gesprochen. Sie haben uns einen klaren, einen überzeugenden Sieg geliefert. Wir haben mit den meisten Stimmen gewonnen, die je für einen Präsidenten abgegeben wurden." Das war seine erste wichtige Botschaft. Vor allem an all jene Trump-Unterstützer, die es vielleicht immer noch nicht wahrhaben wollen.

Seine zweite Botschaft: Einigkeit. Er will der Präsident aller US-Amerikaner sein, egal ob sie für oder gegen ihn gestimmt haben. Er sehe keine demokratischen oder republikanischen Bundesstaaten. "Ich sehe nur die Vereinigten Staaten." Biden spricht die Trump-Unterstützer direkt an. Er "verstehe die Enttäuschung, ich habe selbst einige Male verloren". Aber: "Lasst uns einander eine Chance gegeben." Die anderen seien keine Feinde. "Sie sind Amerikaner."

Biden spricht von dem Mandat, dass ihm die Amerikaner gegeben hätten. Dazu gehört, die Corona-Pandemie zu beenden. Am Montag bereits werde er ein Gremium aus Spezialisten zusammensetzen, die einen Plan ausarbeiten sollen, der schon am Tag nach der Amtsübernahme am 20. Januar in Kraft treten kann. Zu seinem Mandat gehöre auch, Wohlstand zu bringen, das Gesundheitswesen zu reformieren. Er spricht die sozialen Unterschiede an, die überwunden werden müssten, den systemischen Rassismus im Land. Und auch den Klimawandel, der unter Kontrolle gebracht werden müsse.

Kern seines Auftrags aber sei, der "grimmigen Ära der gegenseitigen Dämonisierung ein Ende zu setzen". Er verbindet das mit einer Mahnung an den Kongress, endlich wieder zu kooperieren, zusammenzuarbeiten. Eine ungewöhnliche Botschaft für einen US-Präsidenten. Und wer die vergangenen zehn, 15 Jahre in der US-Politik verfolgt hat, dürfte wenig Hoffnung haben, dass Bidens Wunsch gehört wird.

Biden dürfte das ahnen. Er sagt aber: "Es ist die Zeit zu heilen." Denn: "Wer entscheiden kann, nicht zu kooperieren, der kann auch entscheiden, zu kooperieren." Zusammenarbeit, das sei der Wille des amerikanischen Volkes. Biden muss hoffen, dass die politischen Spieler in Washington das ähnlich sehen. Wenn er Pech hat, hat er es nach seinem Amtsantritt im Januar mit einem republikanisch dominierten Senat zu tun.

Biden ließ sich Zeit, nachdem ihm CNN am Mittag als erster Sender den Sieg zugesprochen hatte. Kurz danach telefonierte er mit Kamala Harris, der designierten Vize-Präsidentin. Er hat sie wohl beim Joggen erwischt. "We did it, Joe", sagt sie ins Telefon, mit Sonnenbrille und verschwitzten Haaren, ein Video davon verbreitet sich schnell im Internet. "Du wirst der nächste Präsident der Vereinigten Staaten sein." Und dann lacht sie, als könne sie es selbst noch nicht glauben. Erst am Abend dann der Auftritt der beiden zur besten Sendezeit.

Harris kommt vor Biden auf die Bühne, ganz in Weiß, die Farbe der Suffragetten, jenen Frauen, die vor mehr als 100 Jahren das Wahlrecht in den USA erkämpft haben, bis es 1920 endlich in der Verfassung verankert wurde.

"Ihr habt eine klare Wahl getroffen", ruft sie. "Ihr habt euch für Hoffnung entschieden, für Anstand, für Wissenschaft. Und ja, für die Wahrheit." Andere gewählte Vizepräsidenten würden es dabei belassen, den neuen Chef im Weißen Haus zu loben. Harris aber würdigt zuvorderst die Frauen, die ihr den Weg in dieses Amt geebnet hätten. "Ich stehe auf ihren Schultern", sagt sie. Sie lobt aber doch Biden dafür, den Mut gehabt zu haben, sich eine Frau an seine Seite zu stellen. Harris wird die erste Frau, die erste schwarze Frau und die erste Person indischer Abstammung in diesem Amt sein.

"Ich werde loyal sein, ehrlich und vorbereitet. So wie Joe es für Barack Obama war", verspricht sie. Allerdings ist sie auch die erste Anwärterin auf Bidens Nachfolge, falls der bald 78-Jährige womöglich vorzeitig aufhören muss. Oder wenn er, wie angenommen, 2024 nicht noch einmal antritt. Es wird interessant sein zu beobachten, welche Dynamiken sich daraus entwickeln.

Über Trump verlieren beide kein Wort. Warum auch? Der amtierende Präsident ist so gut wie Geschichte. Bidens Sieg ist zu deutlich, um ernsthaft anfechtbar zu sein. Für die diversen legalen Tricks, die Trump noch im Köcher hätte, hat er erkennbar keine Unterstützung im republikanischen Lager. Es ist vorbei, auch wenn Trump das weder sich noch dem Land gegenüber eingestehen will.

Zuletzt hing alles an Pennsylvania. Dort entschied sich erst am Samstag nach zähen Tagen der Auszählung Bidens Sieg. Keine 35 000 Stimmen Vorsprung hatte Biden in dem Moment, als CNN ihn zum Gewinner von Pennsylvania erklärte.

Am Wahlabend hatte Trump dort noch einen Vorsprung von mehreren Hunderttausend Stimmen. Dank der Unmengen von Briefwahlstimmen, die zu bis zu 80 Prozent von Demokraten stammen, liegt Biden uneinholbar vorne.

Mit den 20 Wahlleuten aus Pennsylvania hat Biden die Marke von 270 Stimmen geknackt, die er mindestens braucht, um vom Electoral College ins Amt gewählt zu werden.

Die Show endet mit einem Feuerwerk. Die Nummer 46 leuchtet am Himmel auf. Biden wird der 46. Präsident sein. Jubel brandet auf. Bidens Anhänger schwenken Fahnen, US-Flaggen vor allem. Es geht jetzt nicht mehr darum, wer gewinnt. Von nun an geht es wieder um Amerika.

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