Süddeutsche Zeitung

Geflüchtete:"Das große Ziel ist, Obdachlosigkeit zu vermeiden"

Lesezeit: 4 min

Tag für Tag kommen in Berlin Hunderte Geflüchtete an. Der Senat sucht händeringend Wohnraum und Helfer. Anders als 2015 ist von dem Notstand in der Stadt allerdings kaum etwas zu spüren. Das macht es für die Flüchtlinge nicht leichter.

Von Jan Heidtmann, Berlin

Im ersten Untergeschoss des Berliner Hauptbahnhofs herrscht wieder Ordnung. Jedenfalls das, was die Deutsche Bahn darunter versteht. Vor wenigen Monaten noch stapelten sich in einem niedrigen aber geräumigen Seitentrakt unzählige Kisten voller Obst, mit belegten Broten und Wasserflaschen. Hunderte Freiwillige versuchten damals Tausende Geflüchtete aus der Ukraine notdürftig zu versorgen. Jetzt herrscht hier Stille. Kein Mensch ist zu sehen, dafür klebt an einer der Wände ein kleines Schild. Darauf das Piktogramm eines Gitarrenspielers, "Offizieller Bereich zum Musizieren". Eine Zahl neben den Füßen des Musikanten beschreibt, wie groß seine Bühne dabei sein darf: zwei Quadratmeter.

Die Zeiten, in denen Berlins größter Bahnhof eher einem provisorischen Flüchtlingslager glich, sind damit endgültig vorbei. Die handgeschriebenen Wegweiser auf Ukrainisch, Englisch und Deutsch wurden längst abgehängt, die Willkommenshalle auf dem Vorplatz ist auf wenige Container zusammengeschrumpft. Doch die geschäftige Normalität trügt. "Das Jahr 2022 hat uns an den Rand der Möglichkeiten gebracht", sagt Sascha Langenbach vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten. Wenige Tage vor Weihnachten hatte die neue Chefin des Landesamtes, Carina Harms, gewarnt: "Wir schaffen es nicht allein, wir brauchen die Stadtgesellschaften, die Initiativen."

Ein ungewöhnlich flehender Appell, den ein Blick auf die Zahlen verständlich macht. Zwar sind es nicht mehr tausend Geflüchtete, die Tag für Tag nach Berlin kommen wie teils im Frühjahr. Doch es sind immer noch Hunderte Menschen aus der Ukraine, die mit der Bahn, mit Bussen oder mit dem Auto eintreffen. 407 allein am vergangenen Mittwoch. Hinzu kommen Geflüchtete aus Afghanistan oder Syrien, die wieder in größerer Zahl in Berlin ankommen. Mehr als 12 000 im vergangenen Jahr.

Die Container sollen ein Mindestmaß an Privatsphäre sichern

Insgesamt brauchen so derzeit über 100 000 Menschen auf der Flucht längerfristig Unterkunft in der Hauptstadt. Das sind weit mehr als in den krisenhaften Jahren 2015 und 2016. Und kaum jemand im Berliner Senat geht davon aus, dass sich dies in diesem Jahr ändern wird: "Man muss sich darauf einstellen, dass Menschen zu uns fliehen und die Zahlen weiter anhalten", sagte die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) kürzlich.

Zwar kommt der weitaus größte Teil der geflüchteten Ukrainer privat unter, bei Verwandten oder hilfsbereiten Berlinern. Trotzdem muss das Land zurzeit fast jeden Raum anmieten, der als Unterbringung für Geflüchtete taugt. Hostels, die längst geschlossen werden sollten, ehemalige Obdachlosenunterkünfte oder schlicht Hotelzimmer. Zwei Tage vor Weihnachten wurde in den Hangars von Tempelhof eine Notunterkunft mit bald 850 Plätzen eröffnet. Dort waren schon 2016 Geflüchtete in einem Massenlager untergebracht, diesmal sichern einzelne Container zumindest ein Mindestmaß an Privatsphäre.

Selbst das leerstehende Kongresszentrum im Westen der Stadt, das ICC, ist wieder als Zufluchtsort im Gespräch. Nur Turnhallen sollen diesmal unter keinen Umständen zu Flüchtlingsunterkünften umfunktioniert werden. "Das ist das Ziel des gesamten Senats", sagt Sozialsenatorin Katja Kipping (Die Linke). Umso mehr sei es eine "echte Knochenarbeit", jedem Geflüchteten eine Zuflucht zu bieten.

Ende des Jahres verlangte die FDP Berlin, die Geflüchteten in anderen Bundesländern unterzubringen. "Wir müssen daher einen sofortigen Aufnahmestopp verhängen", sagte deren sozialpolitischer Sprecher Tobias Bauschke. Eine Forderung, die die Sozialsenatorin für falsch hält. Jeder Geflüchtete in Berlin müsse ein Obdach bekommen, das "ist unsere humanistische Pflicht". Doch die gut 30 000 Betten in den Unterkünften des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten sind inzwischen fast vollständig belegt. "Freie Plätze: 497, Auslastung: 98,4 Prozent", heißt es in einer Auflistung des Amtes.

Tegel sei ein "Nicht-Ort, wo Zivilgesellschaft keinen Zutritt hat", kritisiert der Flüchtlingsrat

Ganz anders als vor sieben Jahren ist in der Stadt dennoch kaum etwas von der großen Zahl an Geflüchteten zu spüren. Kipping erklärt das auch mit der guten Zusammenarbeit: "Der Spirit zwischen der Senatsverwaltung, dem Senat und dem Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten ist besser." Ein anderer Grund für die relative Lautlosigkeit ist ausgerechnet ein ehemaliger Flughafen. In Tegel sind inzwischen mehrere Tausend Plätze als Notzuflucht eingerichtet, zum Jahreswechsel sind zusätzlich noch Leichtbauhallen fertiggestellt worden. Sie sollen in dieser Woche von Geflüchteten bezogen werden. "Tegel ist mindestens so schlecht wie eine Turnhalle", sagt der Flüchtlingsrat. Es sei ein "Nicht-Ort, wo Zivilgesellschaft keinen Zutritt hat".

Die Geflüchteten sind hier nicht nur in den Terminals und einem früheren Hotel untergebracht, sondern auch in zwei Zelten direkt daneben. Der Zugang zum Flughafengelände wird wie früher kontrolliert; die hohen Zäune und viel Sicherheitspersonal vermitteln den Eindruck, vom Rest der Stadt abgeschnitten zu sein. Ein Bus ist die Hauptverbindung aus dem Lager heraus, Nummer 440, tagsüber fährt er jede halbe Stunde.

Ihor, 19, die Haare zum Zopf gebunden, dazu ein Undercut, ist gerade auf dem Weg in die Stadt. Er habe da nicht wirklich etwas vor, sagt er, "einfach nur mal raus hier". Ihor stammt aus Luhansk, einer ukrainischen Stadt auf dem illegal von Russland annektierten Gebiet. Gemeinsam mit seiner Mutter ist er nach Berlin geflohen, der Vater ist in der Ukraine geblieben. Ihor hat viele Pläne mit hierhergebracht, Deutsch lernen, dann sein Studium als Software-Ingenieur fortsetzen.

Doch all das wirke für ihn gerade sehr fern. Seit vier Wochen leben Mutter und Sohn jetzt in einem der Zelte, gemeinsam mit Hunderten anderen Menschen. "Es ist ok", sagt Ihor, "wir haben gute Nachbarn, da haben wir wirklich Glück gehabt." Damit meint er die Menschen im Doppelstockbett direkt neben ihrem.

Es gibt keinerlei Privatsphäre in diesen beiden Zelten, die meisten Menschen liegen einfach herum, Mobiltelefon in der Hand. Ein paar Kinder tollen herum, an manchen Betten hängt Wäsche zum Trocknen lose über dem Gestänge. Ein paar ältere Frauen haben sich um einen Tisch nahe am Eingang versammelt, in der Mitte liegt ein Mehrfachstecker. Ein Zettel weist den Ort als Handyladestation aus. Es sieht so aus, als sei das Provisorium vom Hauptbahnhof einfach weitergezogen.

Aus den Tagen werden Wochen

Ursprünglich war diese Unterbringung für ein, zwei Tage nach der Ankunft in Berlin gedacht, bis es weitergeht zu einer der regulären Unterkünfte, erklärt Regina Kneiding vom Deutschen Roten Kreuz. Tegel sollte also nur der Ausgangspunkt des Weges eines Geflüchteten sein, an dessen Ende dann im besten Fall die eigene Wohnung steht. Doch aus Tagen in Tegel "sind jetzt Wochen geworden". Denn wenn schon viele Berliner keine neue Wohnung in der Stadt finden, wie soll es dann erst Geflüchteten möglich sein? "Das große Ziel hier ist, Obdachlosigkeit zu vermeiden", sagt Kneiding.

Die Hoffnung der Stadt sind jetzt sogenannte modulare Unterkünfte. Ähnlich dem System der Plattenbauten aus DDR-Zeiten sind das aus Fertigteilen montierte Häuser. Einige Anlagen wurden bereits eröffnet, sie liefern zwar nicht den Standard einer klassischen Neubauwohnung, sind aber doch eine sehr solide Unterbringung. Doch für die Geflüchteten hier können sie im Moment tatsächlich nicht mehr als eine Hoffnung sein. Die nächsten Siedlungen sollen Ende des Jahres fertig werden.

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