Süddeutsche Zeitung

Belarus:Verschwundene Oppositionelle Kolesnikowa wieder aufgetaucht

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Sie befindet sich offenbar in einem Untersuchungsgefängnis in Minsk. Ihr sei physische Gewalt angedroht worden, teilt ihre Anwältin mit. Kolesnikowa soll an diesem Donnerstag von Ermittlern vernommen werden.

Von Frank Nienhuysen, München

Die belarussische Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa ist nach der gescheiterten Zwangsausreise in die Ukraine durch den belarussischen Geheimdienst in ein Untersuchungsgefängnis in Minsk gebracht worden. Ihre Anwältin Ljudmila Kasak konnte sie dort besuchen und sagte, die Ermittler würden Kolesnikowa "Aufruf zur Machtübernahme und der gewaltsamen Änderung der Verfassung" vorwerfen, wie die unabhängige Nachrichtenseite tut.by berichtete. Ihr sei physische Gewalt angedroht worden, teilte die Anwältin mit. Kolesnikowa soll an diesem Donnerstag von Ermittlern vernommen werden.

Kolesnikowa war in Minsk verschleppt worden und sollte am Dienstag gegen ihren Willen in die Ukraine gebracht werden. Nach Angaben ihrer Mitstreiter zerriss sie jedoch ihren Pass und warf ihn aus dem Autofenster. Kolesnikowa hatte vor ihrer Verschleppung betont, dass sie Belarus nicht verlassen werde. Der Süddeutschen Zeitung hatte sie neulich gesagt: "Ich habe gerade keine Angst. Weil ich weiß, dass alles, was unser Team tut, im Rahmen der Gesetze ist. Falls irgendetwas passiert, liegt das nicht an mir, sondern an der Regierung."

Der massive Druck auf die Präsidiumsmitglieder des oppositionellen Koordinierungsrates nahm am Mittwoch weiter zu, denn auch der Jurist Maxim Snak wurde von maskierten Männern festgenommen.

Von den leitenden Mitgliedern des Koordinierungsrats der Opposition ist nur noch eines frei

Snak, 39, hatte sich gerade im Wahlstab des inhaftierten Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko aufgehalten, als er seinen Kollegen vom Koordinierungsrat von einer gestarteten Razzia schrieb. Dann hatte er nur noch Zeit, um das Wort "Maske" zu senden. Ein Grund für die Festnahme sei ihm nicht genannt worden, sagte Snaks Anwalt Dmitrij Lajewskij. Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja rief die belarussische Führung auf, Snak sofort freizulassen. Die Methoden "der sogenannten Staatsmacht" seien empörend. "Zweifellos fürchtet sich Lukaschenko vor Verhandlungen und versucht auf diese Weise, die Arbeit des Koordinierungsrates zu lähmen."

Nun ist von dem siebenköpfigen Präsidium nur noch die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in Belarus in Freiheit. Sie traf sich demonstrativ mit einigen Journalisten vor ihrer Wohnungstür und erzählte ihnen, dass sie mehrmals von Unbekannten angerufen worden sei und auch bereits einmal jemand versucht habe, in ihre Wohnung zu gelangen. Im Hof ihres Hauses habe sie zwei verdächtige Kleinbusse gesehen und Männer in Uniform, sagte die Schriftstellerin. Alexijewitsch forderte Machthaber Alexander Lukaschenko zu einem Dialog auf. Den Journalisten sagte sie: "Ein Mensch terrorisiert ein ganzes Volk." Lukaschenko habe gesagt, er werde nicht mit der Straße reden.

"Es ist nicht die Straße, es ist das Volk", sagte Alexijewitsch. Von seiner Macht abrücken will Präsident Lukaschenko trotz der Dauerproteste nicht. Am Mittwoch sickerten einige weitere Äußerungen durch, die er bei einem Interview mit russischen Medien gemacht hat. Dabei sprach Lukaschenko auch von der belarussischen Volksversammlung, die im Dezember oder Januar zusammentreten solle. Auf dieser Veranstaltung würden viele Termine festgelegt, bis hin zu möglichen Präsidentenwahlen, falls dies nötig sein sollte. Konkreter wurde er nicht. Ob er damit lediglich Zeit gewinnen und manche in der Bevölkerung besänftigen will oder ob Moskau den Autokraten mittelfristig zu einer Machtübergabe drängt, ist schwer einzuschätzen.

Der brutale Polizeieinsatz gegen Regierungskritiker setzt sich jedenfalls täglich fort. Allein am Dienstag wurden nach Angaben des Menschenrechtszentrums Viasna mindestens 118 Menschen festgenommen, die in Minsk gegen die Entführung und Festnahme von Maria Kolesnikowa demonstriert hatten. Die meisten von ihnen waren Frauen.

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SZ vom 10.09.2020
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