Süddeutsche Zeitung

Interreligiöses Gedenken:"Fluch von Auschwitz zu Segen werden lassen"

Lesezeit: 4 min

Von Christian Wernicke, Auschwitz

Sie stehen zusammen, stützen einander. Aya, die Muslima, ergreift die Hand von Annika, einer Christin. Drüben umfassen sich Noura und Moritz, sie trägt Kopftuch, er eine Kippa. In diesem Moment, an diesem Sonntagmorgen im dünnen Schnee zwischen den Blöcken 11 und 12 des Stammlagers Auschwitz, kann diese zwei Dutzend Deutsche nichts trennen. Sie halten inne, schweigen. Selbstverständlich ist das nicht. Vor drei Tagen noch waren diese 24 Schüler und Studenten einander fremd. Die meisten stammen zwar aus Bielefeld. Wirklich kennengelernt jedoch haben sie sich erst hier in Auschwitz: Als junge Christen, Juden und Muslime sind sie nach Polen gereist, um sich dem Schrecken der Schoah auszusetzen.

Gerade eben sind sie mit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet durch die Ausstellung des Horrors gegangen. Sie haben gesehen, was von einigen der 1,1 Millionen Ermordeten übrig blieb: ihre Koffer, die Schuhe und Brillen, ihre Haare. Jeder, auch der CDU-Politiker, hat stumm mit den Tränen gekämpft.

Sie alle sind da, weil sie sich auf eine Art interreligiöses Experiment einlassen. Eine Herausforderung, die der Rabbiner, der jetzt unter freiem Himmel betet, den Lebenden als Vermächtnis der Opfer mitgibt: "Nur wenn wir Worte finden, ist ihr Tod nicht sinnlos", sagt Walter Homolka, der Vorsitzender der Union progressiver Juden. Es gelte, "den Fluch von Auschwitz zu Segen werden zu lassen".

Das klingt, auf den Tag genau 74 Jahre nach der Befreiung des größten NS-Vernichtungslagers, wie eine unlösbare Aufgabe. Aber sie haben es versucht. Vorsichtig haben sie miteinander zu reden begonnen, haben das Mittagessen und Abendbrot geteilt, Tischtennis gespielt oder im Bus, bei der langen Fahrt nach Krakau ins einst jüdische Viertel, miteinander gelacht. Am zweiten Abend hat Moritz, 19, der jüdische Lehramtsstudent, dann Noura, 23, und Aya, 20, die beiden befreundeten Musliminnen und Studentinnen der Sozialwissenschaften, mal gefragt, ob er ihnen einmal beim Abendgebet zusehen dürfte. Er durfte.

Ausgerechnet Auschwitz, dieser Symbolort rassistischer und massenmörderischer Ausgrenzung, beschleunigt die Annäherung. Denn alle 24 Teilnehmer spüren beim Rundgang durch das riesige Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ja denselben bitterkalten Wind. Oder die eisigen Füße, die kaum mehr laufen mögen vorbei an der Rampe, wo die SS-Ärzte einst achtzig Prozent aller in Viehwaggons ankommenden Opfer - Kinder, Frauen, arbeitsunfähige Männer - in die Gaskammern schickten. Gemeinsam haben sie gefroren in Block 25, der Todesbaracke.

Da stellt sich jeder dieselbe Frage wie Julius, der 16-jährige Q1-Schüler von der christlichen Marienschule in Bielefeld: "Wie haben die Menschen das damals nur ausgehalten, mit dünner Bekleidung, ohne richtiges Essen - und das alles monatelang?" Am Abend sitzt der junge Katholik in einer Ecke und hadert mit seinem Gott: "... denn der hat das ja alles zugelassen."

"Gerade in Zeiten, da Unsagbares wieder sagbar wird"

Auschwitz zerrt an den Nerven. Mancher Dialog, etwa mit allzu bohrenden Fragen nach dem Kopftuch, misslingt. Doch schnell schält sich in der Gruppe ein Konsens heraus, was das "Nie wieder!" von Auschwitz heute bedeutet. "Wir dürfen niemanden ausgrenzen", sagt Julius. "Wir dürfen nicht wegschauen," sagt Aya. Moritz nickt, und Noura fügt hinzu: "Denn auch wer nichts tut, der handelt."

Alle Teilnehmer - Christen, Juden, Muslime - sind Deutsche. Ob mit oder ohne "Migrationshintergrund", sie alle haben in der Schule vom Holocaust erfahren. Insofern ist diese eine andere Reise als der erste interreligiöse Versuch im August vorigen Jahres. Damals, so erinnert sich Irith Michelsohn, die resolute Geschäftsführerin der Union progressiver Juden, waren die muslimischen Teilnehmer zumeist junge Geflüchtete: "Diese Menschen waren früher in Syrien oder dem Irak antisemitischer Staatshetze ausgesetzt." Beim Besuch in Auschwitz entdeckten sie, dass im Land der Willkommenskultur von2015 sieben Jahrzehnte zuvor Blutrichter und Henker geherrscht hatten.

Diesmal haben zwar alle dasselbe Wissen. Aber nicht die gleichen Erfahrungen. Es sind Muslime und Juden, die - meist in kleiner Runde - von neuer Diskriminierung erzählen. Moritz mag auf der Straße keine Kippa mehr tragen, "vorsorglich". Die 17-jährige Anna berichtet, wie sie abends nach dem Religionsunterricht in der Synagoge von Passanten an der Bushaltestelle gegenüber beschimpft wird. Aya plagt das Gefühl, "dass ich mit meinem Kopftuch in der Uni immer mehr machen muss, um den Respekt des Professors zu bekommen". Das AfD-Plakat, das schattenhaft muslimische Flüchtlinge zeigte, macht ihr Angst: "Die meinen auch mich, als Deutsche!" Nein, sie wird ihr Kopftuch nicht ablegen: "Das bringt nichts, dann verlangen die als Nächstes, ich solle meine Haare blond färben."

Heute lebt kein Jude mehr in Oświęcim

Am Ende des Rundgangs durchs Stammlager Auschwitz hat Armin Laschet gemahnt, "gerade in Zeiten, da Unsagbares wieder sagbar wird", keinerlei Ausgrenzung zuzulassen. Er meinte die AfD, ohne sie beim Namen zu nennen. Aufzustehen gegen Unrecht, sich einzumischen, wenn der Fremde, der Andere, der Nächste diskriminiert wird - diese Lektion nehmen alle jungen Leute mit nach Hause.

Einen ersten kleinen Erfolg haben sie bereits geteilt, im Jüdischen Museum von Oświęcim. So hieß die polnische Gemeinde eigentlich, so heißt sie wieder seit der Befreiung vom 27. Januar 1945. Vor 1939, bevor die Deutschen kamen, lebten hier 8000 meist arme Juden, sie stellten drei Fünftel der Bevölkerung. Im Museum hängen Fotos, die lachende Kinder, frohe Eltern und ernste Rabbiner zeigen. Jüdischer Alltag, von dem nichts blieb: Heute lebt kein Jude mehr in Oświęcim.

Am Freitag hat sich für die Bielefelder Gruppe kurz nach Sonnenuntergang dann im Museum eine Holztür geöffnet. Fünf Stunden sind gerade vergangen seit ihrem Besuch von Auschwitz-Birkenau, da betreten Juden, Muslime und Christen aus Deutschland die kleine restaurierte Synagoge von Oświęcim. Mehr als eine Stunde singen und schweigen sie gemeinsam, feiern sie den Anbruch des Sabbats, des jüdischen Feiertags.

Hinterher spricht Moritz über diese Minuten. Der 19-Jährige wirkt um Jahre gereift, als er preisgibt, "was es mir bedeutet, den Sabbat an jenem Ort zu feiern, wo die Nazis uns alle vernichten wollten". Aya, Anna, Noura und Julius nicken. Und lächeln.

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Quelle:
SZ vom 28.01.2019
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