Süddeutsche Zeitung

Asyl- und Migrationsdebatte:Die Feigheit vor dem Volk

Lesezeit: 2 min

Statt für ihre Überzeugungen zu werben, richten sich viele Politiker nach der vermuteten Stimmung im Volk. Das simuliert Tatkraft - reicht aber nicht.

Kommentar von Detlef Esslinger

Würde man sich in den Tiefen des Steuerrechts auskennen, dann bräuchte man keine Steuerberaterin. Wüsste man, wie ein Dach zu decken ist, bräuchte man keinen Dachdecker. Definitiv eigenartig fände man einen Angehörigen dieses Gewerbes, der zunächst eine Umfrage veranstalten würde, was die Leute für den optimalen Neigungswinkel halten, und auf dieser Grundlage seine Entscheidung für 30 oder für 25 Grad träfe.

Zugegeben, nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich, aber dennoch: Hauptberufliche Politiker gibt es, damit sie einen komplizierten Sachverhalt professionell durchdringen, eine Position entwickeln und hernach in verständlichen Worten erklären und werben. In der Asyl- und Migrationsdebatte dieser Tage hingegen ist erneut der Typus Politiker zu beobachten, der sich um diesen Kern seines Jobs drückt. Stattdessen entwickelt er seine Position aus Herumhören sowie Umfragen. Sein Angebot richtet er allein nach der vermuteten Nachfrage aus.

Alle drei prominenten Kandidaten für den CDU-Vorsitz erklären bei dem Thema wenig und tröten manches. Auf der Suche nach einem Wahlkampfhit tut Friedrich Merz so, als verhindere das deutsche Grundrecht auf Asyl eine europäische Flüchtlingspolitik. Jens Spahn lief der von ihm vermuteten Stimmung hinterher, indem er über einen Ort seines Wahlkreises die (falsche) Geschichte erzählte, er werde von fünf gewaltbereiten Asylbewerbern "in Atem gehalten". Annegret Kramp-Karrenbauer dachte über Abschiebungen nach Syrien nach.

In Wahrheit redet man dem Volk nach dem Mund

Diese Äußerungen haben gemeinsam, dass sie Tatkraft nur simulieren. Keiner der drei wagt es zu erklären, warum 2015 so viele Menschen in Deutschland aufgenommen wurden, was seitdem getan wurde - das Türkei-Abkommen, Einschränkungen beim Familiennachzug, die in Ungarn und Libyen erledigte Drecksarbeit -, damit sich dies nicht wiederholt, und was er (oder sie) nun bei der Integration der Gekommenen für möglich und nötig hält. Stattdessen Geschichten und Geschichtchen, die zu nichts führen, mit denen man aber suggeriert, den Leuten aufs Maul zu schauen. In Wahrheit redet man ihnen nach dem Mund. Werden die Leute das belohnen? Für die Antwort muss jeder nur sich selbst befragen.

Dasselbe beim Migrationspakt: Viel zu viele Politiker drücken sich, in unterschiedlichen Formen. Heiko Maas (SPD) und sein Auswärtiges Amt tauchen komplett ab. Jens Spahn sagt nicht, ob er dafür oder dagegen ist, sondern möchte die Entscheidung in zwei Wochen unschuldigst dem Orakel des Parteitags überlassen. Und in Sachsen-Anhalt lehnt Holger Stahlknecht, der neue CDU-Landesvorsitzende, den Pakt ab, obwohl er "für mich inhaltlich kein Problem ist". Aber er habe "ein Problem mit der Kommunikation".

So etwas ist wirklich kaum zu fassen. Über die Qualität eines Politikers entscheidet nicht, ob er für oder gegen den Pakt ist. Jede Position wäre grundsätzlich legitim. Aber wenn man nicht den Inhalt für das Problem hält, sondern die Kommunikation, dann lehnt man doch nicht den Inhalt ab, sondern arbeitet an der Kommunikation. Alles andere ist Feigheit vor dem Volk - getarnt durch Reden, die sich irgendwie entschlossen anhören sollen. Einen Dachdecker, der so arbeitete, würde man wechseln.

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Quelle:
SZ vom 24.11.2018
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