Süddeutsche Zeitung

Türkei:Raki-Faktor am Bosporus

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Die Regierung in Ankara nutzt den Corona-Lockdown, um auch den Verkauf von Bier, Wein und Raki zu unterbinden. Kritiker vermuten dahinter andere Motive als die Bekämpfung der Pandemie.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Am ersten Wochenende eines fast dreiwöchigen Corona-Lockdowns hat die türkische Polizei vor allem in den großen Städten mit Verkehrskontrollen und Fußstreifen für die Durchsetzung der ganztägigen Ausgangssperre gesorgt. Berichte über größere Verstöße oder Proteste gab es keine, obwohl die Türken derzeit nur mit Sondergenehmigungen aus beruflichen Gründen oder aber zum Einkauf von Lebensmitteln auf die Straße gehen dürfen. Touristen sind davon ausgenommen.

Streit gab es aber weiter um das von der Regierung zu Beginn des Lockdowns verhängte Alkoholverkaufsverbot: Bis zum Ende der Ausgangsperre am 17. Mai - und damit bis nach dem Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan - darf nun im gesamten Land kein Bier, Wein und Raki-Schnaps mehr verkauft werden. Solche Getränke werden in der Türkei nur in den mit einer speziellen Alkohollizenz ausgestatteten Tekel-Läden und in manchen Supermärkten verkauft oder auch direkt nach Hause geliefert.

Anders als Lebensmittelläden, Apotheken und Bäckereien haben die Tekel-Läden laut Innenministerium keine Ausnahmeerlaubnis, während des Lockdowns zu öffnen und dabei Alkohol zu verkaufen.

Wegen des Ramadan dürfte die Nachfrage nach Alkohol bei Teilen der Bevölkerung ohnehin zurückgegangen sein. Während der Alkoholverkauf in den Supermärkten eingestellt wurde, ist dem Vernehmen nach in Einzelfällen andernorts weiter Alkohol ausgeliefert worden.

Kritiker klagen, das Alkoholverbot sei "politisch motiviert"

Nach Bekanntgabe des Verbots hatte es einen Proteststurm in den sozialen Medien gegeben (Hashtag "Finger weg von meinem Alkohol"). Kritiker nannten die Kurzzeit-Prohibition "politisch motiviert". Das Verkaufsverbot habe nichts mit der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie zu tun. Die konservativ-islamische Regierungspartei AKP versuche, den Lebensstil der Bürger zu verändern.

Eine religiöse Gewerkschaft hingegen rief dazu auf, während des Lockdowns auch den Tabakverkauf "aus Gesundheitsgründen" zu unterbinden. Strenggläubige Muslime verzichten nicht nur auf Alkoholkonsum, sie rauchen auch nicht.

Der Protest gegen das Alkoholverbot kommt aus einem stärker säkular orientierten, städtischen Teil der Bevölkerung. Die Anwaltskammer von Ankara etwa rief wegen des Verkaufsverbots den Staatsrat an: Das hohe Gericht müssen entscheiden, ob das Vorgehen der Regierung verfassungskonform sei.

Auch der Verband der Tekel-Geschäftsinhaber erklärte, das Verbot sei gesetzeswidrig. Der Verbandsvorsitzende Ozgür Aybaş verbreitete über Twitter sogar, das Verbot sei bereits wieder aufgehoben worden. Dem widersprach das Innenministerium: "Nichtoffiziellen Erklärungen darf kein Glauben geschenkt werden." Das Ministerium drohte mit Strafverfolgung "wegen Desinformation während des Lockdowns".

Verwirrung gab es auch um die Impfoffensive der Regierung. Nachdem Gesundheitsminister Fahrettin Koca vor wenigen Tagen gesagt hatte, für die kommenden zwei Monate stehe nicht mehr genügend Impfstoff zur Verfügung, um die Immunisierungskampagne im gleichen Tempo fortzusetzen, widersprach Präsident Recep Tayyip Erdoğan öffentlich. Die Türkei habe durchaus genügend Impfdosen. Es stünden das chinesische Präparat Sinovac und der Impfstoff Biontech zur Verfügung. Zudem werde eine Lieferung des russischen Präparates Sputnik erwartet.

Zuletzt waren nur noch etwa 200 000 Menschen pro Tag geimpft worden, versprochen hatte die Regierung davor eine Impfrate von einer Million Personen am Tag. Die Türkei hat mehr als 85 Millionen Einwohner. Bisher wurden mehr als 23 Millionen Menschen geimpft, rund neun Millionen davon zweifach.

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