Süddeutsche Zeitung

US-Truppen in Afghanistan:Ein Ende im Chaos

Lesezeit: 3 min

In Washington werden Erinnerungen an den unrühmlichen Abzug aus Vietnam vor fast einem halben Jahrhundert wach.

Von Christian Zaschke

Das Bild, das durch Washington geistert, stammt aus dem Jahr 1975. Damals sind Mitarbeiter der US-Botschaft in Saigon mit Hubschraubern vom Dach des Gebäudes gerettet worden. Es war das unrühmliche Ende des Vietnamkriegs. In Anbetracht des Vormarschs der Taliban in Afghanistan besteht nun die Befürchtung, dass es in Kabul zu ähnlichen Szenen kommen könnte.

Die Regierung von Präsident Joe Biden schickt 3000 Soldaten ins Land, um die Evakuierung weiter Teile der Botschaft vorzubereiten. Amerikaner, die nicht für die Regierung arbeiten, wurden dringend dazu aufgefordert, das Land schnellstens zu verlassen. Ned Price, Sprecher des Außenministeriums, teilte mit, dass das Gros der 1400 US-Mitarbeiter der Botschaft nach Hause geschickt werden solle. Eine genaue Zahl nannte er nicht. Insgesamt arbeiten rund 4000 Menschen im Botschaftskomplex.

Price betonte: "Lassen Sie mich eines klarmachen: Die Botschaft bleibt geöffnet." Ob dies tatsächlich so sein wird, erscheint derzeit eher fraglich. Kabul rüstet sich für den Ansturm der Taliban. Zuletzt wurde in Washington überlegt, die Botschaft näher an den Flughafen zu verlegen. Das hieße, dass die USA das Gebäude in Kabul aufgäben, das sie 2001, am Beginn des Krieges, in einem symbolischen Akt wieder für sich reklamiert hatten.

Deprimierte Stimmung in der US-Botschaft in Kabul

Nach Informationen der New York Times verhandeln die USA mit den Taliban darüber, dass diese die Botschaft verschonen, falls sie Kabul einnehmen sollten. Chefunterhändler Zalmay Khalilzad befinde sich in Gesprächen. Unter anderem habe er den Taliban mitgeteilt, dass eine neue Regierung unter ihrer Beteiligung keine finanzielle Unterstützung erhalte, sollte die Botschaft fallen.

Innerhalb der Botschaft ist die Stimmung mehreren Medienberichten zufolge äußerst angespannt. Die Erfolge der Taliban haben offenbar die Mitarbeiter der Botschaft ebenso überrascht wie die Zentrale in Washington. Es herrschten Sorge und Depression. Im US-Außenministerium und im Pentagon geht man davon aus, dass die afghanische Regierung innerhalb weniger Wochen fallen könne.

Der im April von Präsident Biden angekündigte Abzug der US-Truppen sollte offiziell bis zum 11. September vollzogen sein, bis zu dem Tag also, an dem islamistische Terroristen vor 20 Jahren mehrere Flugzeuge in den USA kaperten und unter anderem ins World Trade Center steuerten. Diese Attacke markierte den Beginn des Krieges. Als Biden dessen Ende verkündete, hatte er gehofft, die afghanische Regierung werde sich selbst verteidigen können. Kürzlich sagte er im Weißen Haus: "Wir haben in 20 Jahren mehr als eine Billion Dollar ausgegeben. Wir haben mehr als 300 000 afghanische Soldaten ausgebildet und mit moderner Ausrüstung ausgestattet. Die afghanischen Führer müssen zusammenkommen." Von einem Zusammenkommen kann allerdings keine Rede sein.

Das offizielle Abzugsdatum war zuletzt auf Ende August vorgezogen worden. De facto war der Einsatz jedoch bereits beendet. Alle wichtigen Basen im Land hatten die USA aufgegeben. Zuletzt hatten sie die afghanischen Truppen mit sporadischen Luftschlägen unterstützt, die sie aus Katar, den Vereinigten Arabischen Emiraten und von einem in der Region stationierten Flugzeugträger flogen. Den Vormarsch der Taliban konnte das nicht aufhalten.

Biden hat sich in den vergangenen Tagen mehrmals mit seinen führenden Sicherheitsberatern getroffen, um die Lage zu erörtern. Es sollen nun nicht nur möglichst rasch möglichst viele Amerikaner außer Landes gebracht werden, sondern auch möglichst viele afghanische Helfer, die die USA als Übersetzer, Fahrer und in anderen Funktionen unterstützt hatten. Diesen haben die Taliban Vergeltung angedroht.

Kürzlich hatten die USA die Zahl der Visa für ehemalige Helfer von 11 000 auf 19 000 erhöht. Da diese Visa auch für Familienangehörige gelten sollen, könnten rund 50 000 Menschen in die USA kommen. Das Pentagon bereitet sich sogar auf bis zu 100 000 vor. Ursprünglich war man allerdings davon ausgegangen, mehr Zeit zu haben. Wie unter den aktuellen Umständen noch Visumsanträge in der Botschaft in Kabul geprüft werden sollen, ist unklar.

Neben den 3000 Marines, die Biden nach Afghanistan schickt, sollen weitere 4000 Soldaten in der Region stationiert werden. Wie lange der Einsatz dauern soll, ist nicht bekannt. Man darf jedoch davon ausgehen, dass dieses Kontingent nicht bis zum ursprünglich ausgerufenen Stichtag am 11. September wieder zu Hause ist. Biden wollte der Präsident sein, der den 20 Jahre währenden Krieg auf verantwortungsvolle Weise beendet. Nun sieht es so aus, als präsidiere er über ein Ende im Chaos.

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