Süddeutsche Zeitung

Tourismus:Schmäh als Pille

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Lipizzaner-Schweiß und Stahlpartikel vom Riesenrad: Wien lässt sich in Tablettenform vermarkten.

Von Martin Zips

Möchte man das beliebte Spiel um Aufmerksamkeit mal auf den Punkt bringen, so reicht dieses, von Werbefachleuten gern verwendete Wort: "edgy". Es kann "unkonventionell" bedeuten, aber auch "eigenwillig" und "innovativ". Es kann "ausgefallen" meinen oder "avantgardistisch". Wer Aufmerksamkeit haben möchte, der sollte edgy sein!

Noch etwas, das gerade gefragt ist: "Microdosing". Muss man auch kennen, ist ein Trend aus den USA. Im Grunde geht es bei Microdosing darum: Von irgendwelchen Substanzen wird ein ganz kleines bisschen in Tabletten gefüllt und behauptet, es würde dieses oder jenes bewirken, wenn man es denn schluckt. Wien Tourismus macht gerade mit einer "Microdose Vienna"-Werbekampagne auf sich aufmerksam, die total edgy ist. In den Kapseln, angeblich: Lipizzaner-Schweiß und Stahlpartikel vom Riesenrad. Wien zum Einverleiben. Das Set kann man gewinnen, wenn man seinen Hauptwohnsitz in den USA oder in Großbritannien hat.

Auch die oberösterreichische Stadt Linz hatte sich im Jahr 2021 mal an so einer edgy Kampagne versucht. Für den internationalen Markt produzierte man ein Video, in dem das angeblich "wahre Linz" zu sehen war, also eher unfreundlich und schmutzig. Bei der Kommunalpolitik kam das nicht so gut an, auf internationalen Festivals hingegen wurde der Clip ausgezeichnet. Weil: total edgy eben.

Die Werbeagentur hat auch die "Elefantenlänge" Abstand erfunden

Und nun die alte Kaiser-Stadt, gepresst in sechs Tabletten - auch von einem Klimt-Gemälde habe man Staub abgewischt, Sigmund Freuds Spirit verflüssigt und auch was vom Heurigen in die Pillenpresse gepackt, behauptet "The Vienna Tourist Board". Jedenfalls: 482 000 Youtube-Aufrufe in nur sechs Tagen! Die USA seien ja schon jetzt mit mehr als einer Million Nächtigungen Wiens "drittstärkster Herkunftsmarkt", so heißt es. Aber da gehe noch was. Entwickelt wurde die Kampagne von den Strategen der Werbeagentur Jung von Matt Donau. Die hatten schon mit der Idee, historische Wiener Akt-Gemälde über die Plattform "Only Fans" zu verbreiten, auf der auch gern erotische Inhalte veröffentlicht werden, für Aufsehen gesorgt. Auch damit, dass Österreicherinnen und Österreicher während der Pandemie immer genau einen "Baby-Elefanten" Abstand halten sollten.

Jedoch, so warnt der Oberarzt der Psychiatrischen Uniklinik der Berliner Charité, Tomislav Majic, die Kampagne spiele womöglich auch der "Psychedelika-Industrie" in die Hände: Im Silicon Valley sei man irgendwann auf die Idee gekommen, Substanzen indigener Völker gering dosiert in Tabletten zu packen, etwa um damit Depressionen zu bekämpfen. Für bereits Erkrankte sei Microdosing vielleicht nicht schlecht, er finde es aber "frappierend, wenn man das nun auch gesunden Menschen aufschwätzt oder den Hype als Werbeinstrument kapitalisiert". Jung von Matt und Wien Tourismus haben übrigens auch eine Wiener Lifestyle-Apotheke in die Sache mit den Pillen einbezogen. Damit's seriöser wirkt.

Letztlich geht es um Aufmerksamkeit. Von den 380 Edgy-Kapsel-Sets sollen 20 verlost und der Rest verschenkt werden. Bald dürfte also noch mehr Gedränge sein, auf der Kärntner Straße. Aber der echte Wiener kann da ja immer mindestens einen Baby-Lipizzaner Abstand halten.

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