Süddeutsche Zeitung

Gewalttat von Volkmarsen:Was wir wissen - was wir nicht wissen

Lesezeit: 4 min

Nach der Gewalttat beim Rosenmontagsumzug in Volkmarsen hat sich die Zahl der Opfer auf fast 60 erhöht. Der Fahrer war nicht alkoholisiert, ein Gaffervideo führte zur zweiten Festnahme.

Von Anna Fischhaber

Was ist passiert?

Montagnachmittag in Volkmarsen, einer nordhessischen Kleinstadt. Auf dem Parkplatz am örtlichen Rewe-Markt stehen verkleidete Menschen dicht gedrängt. 700 Menschen in 27 Gruppen nehmen diesmal am Rosenmontagsumzug nicht weit von Kassel entfernt teil. Doch was so fröhlich beginnt, endet nach wenigen Minuten im Drama. Gegen 14.45 Uhr rast plötzlich ein silberfarbener Mercedes Kombi in die Menge. Erst nach 30 Metern stoppt er. Fast 60 Menschen werden verletzt, ein Drittel von ihnen sind Kinder.

Am Dienstagmorgen rollen Kolonnen von Polizeifahrzeugen durch den Ort, der Tatort ist zunächst noch abgesperrt, wird dann aber gereinigt und wieder für Fußgänger und Autofahrer freigegeben, berichtet ein Reporter der Deutschen Presseagentur. Auch das kaputte Tatfahrzeug ist inzwischen abgeschleppt. In der Lokalzeitung Hessische/Niedersächsische Allgemeine erzählen Zeugen, der Fahrer habe die Absperrung umgangen und sei dann mit Vollgas auf die Menschenmenge zugerast. Manche glauben, dass der Mann es vor allem auf Kinder abgesehen hatte. Die Hessenschau meldet, der Tatverdächtige sei frontal gegen die Laufrichtung gefahren. Die Ermittler machen dazu keine Angaben.

Wer sind die Opfer?

Zunächst spricht das hessische Innenministerium von etwa 30 Opfern, doch offenbar sind deutlich mehr Menschen verletzt. "Aktuell befinden sich noch 35 Personen in stationärer Behandlung im Krankenhaus", twittert die Polizei Nordhessen am Dienstagmorgen. 17 seien ambulant behandelt worden und konnten die Klinik bereits verlassen. Aktuell hat sich die Zahl der Verletzten auf fast 60 erhöht, schreibt die Polizei am Mittag. Unter den Opfern sind demnach 18 Kinder. Das jüngste von ihnen ist erst drei Jahre alt.

Wie stark die Kinder verletzt sind und ob unter den Opfern auch Schwerverletzte sind, kann eine Polizeisprecherin zunächst nicht sagen. Später heißt es, man schließe eine Lebensgefahr für einige der Patienten nicht aus. Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt ermittelt wegen eines versuchten Tötungsdelikts.

Wer ist der Täter?

Der ebenfalls verletzte Fahrer wird nach der Tat festgenommen. Der Mann ist deutscher Staatsbürger, 29 Jahre alt, und kommt aus der 6800-Einwohner-Stadt. Volkmarsen ist nicht groß, einige der Opfer dürfte der mutmaßliche Täter also gekannt haben. In der Frankfurter Rundschau sagt der Vermieter, der Mann habe gemeinsam mit einer Verwandten in einem der Fachwerkhäuser gewohnt. Beide seien aus Baden-Württemberg nach Hessen gezogen. Er beschreibt ihn als "unauffälligen Mann". Es gab demnach nie Beschwerden. Am Monatsende wollten der 29-Jährige und seine Oma ausziehen. Am Dienstag schirmen Einsatzkräfte das Haus ab, in dem es am Abend zuvor einen Einsatz von Spezialkräften gab.

Ein Zeuge berichtet laut Bild-Zeitung, erboste Menschen seien nach der Tat mit erhobenen Fäusten auf den Fahrer zugelaufen, die Polizei habe ihn schützen müssen. Der Deutsche, so das hessische Innenministerium, habe das Auto mit voller Absicht auf die Menschen zu gesteuert. "Das war bewusst und gewollt", schreibt auch ein Polizist, der die Tat zufällig beobachtet hat und die Seite nordhessen-journal.de hobbymäßig betreibt.

Der mutmaßliche Täter soll nun einem Ermittlungsrichter vorgeführt werden, sobald sein Gesundheitszustand dies zulässt. In einigen Medien ist von einer schweren Kopfverletzung die Rede. Bislang ist er offenbar nicht vernehmungsfähig.

Was ist das Motiv?

Warum fährt da jemand einfach in eine Menge feiernder Faschingsbesucher? Noch ist unklar, was den Mann zu der Tat trieb. Die Polizei ermittelt in alle Richtungen, nachdem es zunächst widersprüchliche Angaben zu den Hintergründen gegeben hat. Hinweise auf eine politisch motivierte Straftat liegen offenbar nicht vor. Im nur 200 Kilometer entfernten Hanau starben bei einem rechtsradikalen Angriff am Mittwoch zehn Menschen und der Täter.

Der Fahrer von Volkmarsen war nach ersten Erkenntnissen den Behörden nicht als Extremist bekannt, nach Informationen der Deutschen Presseagentur war der Mann aber in der Vergangenheit durch Beleidigung, Hausfriedensbruch und Nötigung aufgefallen. Das Unfallfahrzeug ist auf den 29-Jährigen zugelassen. Berichte, wonach der Mann alkoholisiert war, dementiert die Generalstaatsanwaltschaft am Dienstag. Ob er unter Drogeneinfluss gestanden habe, stehe noch nicht fest. Eine Nachbarin sagt zu RTL: "Ich habe ihn heute wegfahren sehen, er sah aus, als stünde er unter Drogen und sagte, 'bald stehe ich in der Zeitung'."

Was hat es mit der zweiten Festnahme auf sich?

Eine zweite Person folgt dem Wagen, als er die Absperrung durchbricht - und filmt das Auto, als es in die Menge rast. Um in den sozialen Netzwerken groß herauszukommen? Dies könne nicht ausgeschlossen werden, sei aber auch noch nicht abschließend belegt, heißt es am Montagabend aus Sicherheitskreisen.

Klar ist: Die Polizei hat einen zweite Person festgenommen, er sei schon kurz nach dem Zwischenfall mitgenommen worden. Es soll sich um einen 37-jährigen Mann handeln. Gegen ihn wird wegen "Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Filmaufnahmen" ermittelt, teilt die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Dienstagmorgen mit. Es geht um ein sogenanntes Gaffer-Video. Ob es darüber hinaus einen Zusammenhang zu dem Vorfall gegeben habe, müsse noch ermittelt werden.

Warum warnt die Polizei vor einem falschen Foto?

"Bei der abgebildeten Person handelt es sich definitiv nicht um den Täter", schreibt die Polizei Nordhessen am späten Montagabend bei Twitter über ein Foto, das im Internet kursiert und angeblich die Festnahme des Täters zeigt. "Teilen Sie keine Falschnachrichten!", heißt es weiter. Dazu postet sie das Bild, auf dem mehrere Menschen zu sehen sind, die neben einem Auto stehen. Ihre Gesichter wurden unkenntlich gemacht.

Wie geht es mit dem Fasching in Hessen weiter?

Nach dem Zwischenfall werden alle Fastnachtsumzüge in Hessen vorsichtshalber abgebrochen. Das Polizeipräsidium Frankfurt bezeichnet dies als Vorsichtsmaßnahme. Am Dienstag erteilt das Innenministerium die Erlaubnis, dass die geplanten Umzüge starten können. Der beliebte Frankfurter Fastnachtszug im Stadtteil Heddernheim ("Klaa Paris") am Faschingsdienstag soll gegen 14.30 Uhr beginnen, die Polizei hat allerdings die Präsenz erhöht.

"Es gibt zwar keine konkreten Hinweise darauf, dass sich die Gefährdungslage für die noch geplanten Umzüge erhöht hat. Wir sensibilisieren aber die Veranstalter, ihre Sicherheitskonzepte nochmals zu überprüfen", heißt es in einer Mitteilung. Laut Hessenschau sind einige Veranstaltungen wie der Kinderumzug in Fritzlar oder der Umzug in Gemünden dennoch abgesagt worden.

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