Süddeutsche Zeitung

USA:Für Angst ist kein Platz in New York

Lesezeit: 4 min

Hundertprozentige Sicherheit bei einem Sportevent mit Millionen Schaulustigen? Kaum zu gewährleisten. Warum New York den Marathon nach dem jüngsten Terroranschlag trotzdem nicht abgesagt hat.

Von Johanna Bruckner, New York

Ein einziges Mal wurde der New-York-City-Marathon in seiner knapp 50-jährigen Geschichte bisher abgesagt. Aber es war kein Terroranschlag, der die Organisatoren zu diesem Schritt bewog, sondern eine Naturgewalt. In der letzten Oktoberwoche 2012 war Hurrikan Sandy mit zerstörerischer Kraft über New York hinweggezogen - die Verantwortlichen entschieden, dass es pietätlos sei, Zehntausende durch die teilweise schwer beschädigte Stadt laufen zu lassen. Traditionell führt der Marathon durch alle fünf New Yorker Stadtviertel, Start ist jedes Jahr in Staten Island.

Im Jahr 2001 fand das Rennen dagegen statt. Dort, wo noch zwei Monate zuvor die Türme des World Trade Centers gestanden hatten, klaffte eine Wunde im Stadtpanorama - gut sichtbar für alle Teilnehmer, die ihren Blick von der Verrazano Narrows Bridge Richtung Manhattan wandten. Die Brücke, die Staten Island und Brooklyn verbindet, ist der höchste Punkt der mehr als 42 Kilometer langen Strecke. Wie schon 2001 soll der Marathon in diesem Jahr zeigen: Wir lassen uns vom Terror nicht kleinkriegen.

"Als mich mein Schwager gefragt hat, ob das Rennen unter diesen Umständen überhaupt stattfindet, war ich fast ein bisschen empört", erzählt Matthieu Hornung. Der 43-jährige Halbfranzose ist EU-Beamter in Brüssel und mit seiner Familie zu seinem zweiten New-York-City-Marathon angereist. Marathonläufer seien das falsche Publikum für terroristische Einschüchterungsversuche, findet er. "Man läuft mit dem Kopf, ist mental so fokussiert - da ist für Angst überhaupt kein Platz."

"Nicht die Teilnehmer sind die Attraktion, das Publikum ist das Spektakel"

Diese Einschätzung wird von den Zahlen gedeckt: Dem Veranstalter New York Road Runners zufolge gibt es nicht mehr kurzfristige Absagen als in den vergangenen Jahren. 50 000 Läufer aus 125 Nationen gehen am Sonntag an den Start. Das mag auch mit den Kosten zusammenhängen: Zur Anmeldegebühr von knapp 360 Dollar kommen Ausgaben für Anreise, Unterkunft und Verpflegung. Matthieu Hornung musste im vergangenen Jahr am Tag vor dem Start doch noch absagen, die Achillessehne spielte nicht mit. Zumindest der finanzielle Ärger hielt sich bei ihm in Grenzen, die Familie war wie auch in diesem Jahr bei Freunden in Manhattan untergekommen. Und Hornung durfte seinen Startplatz nachträglich einlösen, um das Losverfahren kam er dieses Jahr herum.

Der New-York-Marathon ist keine Qual, die man sich antun muss. Den New-York-Marathon muss man sich antun dürfen. Im Januar begann die Lotterie, die teurere Alternative dazu sind Sportreiseagenturen, die Startplatz-Kontingente verkaufen. Auch viele der freiwilligen Helfer arbeiten nicht ganz uneigennützig daran mit, ein unvergessliches Erlebnis für die Läufer zu schaffen: Wer in New York wohnt, kann sich direkt über den Veranstalter qualifizieren. Voraussetzung ist die Teilnahme an neun Stadtläufen innerhalb eines Jahres, und eben Freiwilligenarbeit beim Jahreshöhepunkt, dem New-York-Marathon.

Hornung läuft die Distanz seit 1997, er hat schon an den großen Marathons in Berlin, Istanbul, Rom und Paris teilgenommen. "Das Besondere am New-York-Marathon ist: Nicht die Teilnehmer sind die Attraktion, sondern das Publikum ist das Spektakel. Die Zuschauer sind total aufgekratzt und aus dem Häuschen, schreien sich über vier, fünf Stunden die Seele aus dem Hals - du als Läufer bekommst die Show geliefert." Zweieinhalb Millionen Menschen werden am Sonntag an der Strecke erwartet. Wenn Begeisterungsfähigkeit eine der amerikanischen Grundtugenden ist, dann scheint eine Sportveranstaltung wie der New-York-Marathon genau die richtige Plattform zu sein, um zu zeigen: Wir sind widerstandsfähig. Jubel gegen Terror.

In den vergangenen Tagen konnte man in der Stadt eine Mischung aus Trotz und einer Business-as-usual-Attitüde beobachten. Im hippen Stadtteil Williamsburg beispielsweise war das Polizeiaufgebot höher als sonst. Die Beamten waren allerdings nicht vor Ort, um Menschen zu beschützen, sondern das neue iPhone. Die Stadt mag abermals getroffen worden sein, anmerken lässt sie es sich nicht.

Wer genau hinguckt, wird am Sonntag allerdings sehen können, das etwas anders ist als in normalen Jahren. Die Sicherheitsbehörden haben ihre Strategie nach dem jüngsten Terroranschlag mit einem Kleinlaster zwar nicht verändert - aber sie verstärken die bestehenden Maßnahmen. Es gibt mehr schwere Fahrzeuge, die den Zugang zur Strecke blockieren, und die Zahl der Beobachtungsposten und Scharfschützen auf den Dächern wurde in allen fünf Bezirken verdoppelt. Außerdem patrouillieren mehr Polizisten und Hunde die Straßen. Matthieu Hornung macht sich weniger Sorgen um seine Sicherheit, als darum, was die Sicherheitsmaßnahmen für seine Familie bedeuten: "Für meine Frau war es schon bei meiner ersten Teilnahme eine Herausforderung, überhaupt an die Strecke heranzukommen."

Die Tortur beginnt bereits vor dem Start

Seit dem Anschlag auf den Boston-Marathon 2013 mit drei Toten gelten auch für die Läufer in New York verschärfte Regeln. Es ist nicht mehr erlaubt, in weiter Kleidung zu laufen. So soll verhindert werden, dass Waffen auf die Strecke gelangen. Rucksäcke sind verboten, die Teilnehmer dürfen lediglich eine vom Veranstalter gestellte durchsichtige Plastiktüte mit an den Start nehmen.

Matthieu Hornung läuft erst mit der zweiten Welle um kurz nach zehn los, er muss aber bereits um kurz vor sieben im Startzentrum in Fort Wadsworth, Staten Island, sein. Drei Stunden Wartezeit im Freien können Anfang November kalt und feucht sein - doch teure Funktionskleidung mitzunehmen, ist nicht ratsam. Da der Lauf im Central Park in Manhattan endet, wird sämtliche Kleidung, die in Staten Island zurückbleibt, traditionell an Obdachlosen-Organisationen gespendet. Die meisten Läufer kommen deshalb in Klamotten an den Start, die sie entbehren können. "Wir sehen ein bisschen aus wie Clowns", sagt Hornung.

Wie gesagt: Den New-York-Marathon muss man wollen. Als das Event 2012 nach Hurrikan Sandy abgesagt wurde, ließen es sich viele Sportler nicht nehmen, trotzdem zu laufen. Statt durch alle fünf New Yorker Stadtteile zu rennen, drehten sie ihre Runden im Central Park. Matthieu Hornung hat für seinen Lauf ein klares Ziel vor Augen: "Ich muss mich beeilen, um 18 Uhr geht der Flieger zurück nach Deutschland. Morgen muss ich wieder arbeiten."

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