Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Höchststrafe für den Mörder von Sarah Everard

Lesezeit: 3 min

Der Polizist soll die Pandemie und seinen Dienstausweis benutzt haben, um die 33-Jährige in London zu entführen. Der Fall löste eine Debatte über Gewalt gegen Frauen aus.

Von Anna Fischhaber

Eine Frau ist verschwunden. Entführt, vergewaltigt und ermordet auf dem Weg nach Hause. Der geständige Täter ist ein Mann, dessen Beruf es ist, Menschen zu beschützen. Ein Polizist. Schnell wird im Fall Sarah Everard aus Trauer Wut. "Genug ist genug", sagen viele Frauen in Großbritannien, unter dem Hashtag "Reclaim These Streets" ("Holt euch die Straßen zurück") berichten sie in sozialen Netzwerken von ihren eigenen Ängsten und Erfahrungen auf dem Heimweg. Mitten in der Pandemie trauern sie öffentlich um die 33-jährige Marketingleiterin, sie fordern mehr Einsatz im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt, die britische Herzogin Kate solidarisiert sich, Politiker versprechen ein Umdenken.

Sechs Monate sind seither vergangen. Aber hat sich auch etwas geändert?

77 Frauen, die mutmaßlich von Männern getötet wurden, zählt der Sender ITV seit dem Verschwinden von Sarah Everard in Großbritannien. Gerade entsetzt der Fall Sabina Nessa, 28, Grundschullehrerin, die Londoner. Ein paar Minuten sind es von ihrer Wohnung im Südosten der Stadt bis zu einem Pub in Kidbrooke, wo eine Freundin wartet. Nessa kommt nie an. In dieser Woche hat das Gericht einen Mann wegen Mordes angeklagt.

Und während sich erneut zahlreiche Frauen öffentlich fragen, wann es aufhört, dass sie im Dunkeln Angst haben müssen, wird am Donnerstagmittag das Urteil gegen den Mörder von Sarah Everard verkündet: Das Strafgericht Old Bailey verurteilt Wayne C., 48, Ehemann, Vater und Polizist, zu einer lebenslangen Haft ohne Aussicht auf vorzeitige Freilassung. Der Mann ist seit 2018 bei der Metropolitan Police, zuletzt bewacht er Botschaften in London, nun sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh und wird wohl dort bleiben. Im britischen Justizsystem bedeutet whole life order, dass ein Verurteilter wirklich bis zum Lebensende in Haft bleibt.

Sie habe gegen die Lockdown-Regeln verstoßen, gibt Wayne C. seinem Opfer zu verstehen

Am Abend ihres Verschwindens am 3. März besucht Sarah Everard Freunde. Gegen 21 Uhr bricht sie wieder auf, vier Kilometer sind es nach Hause. Zuletzt wird sie um 21.30 Uhr allein auf einer Hauptstraße in Clapham gesehen. Tagelang wird nach ihr gesucht, ihre Leiche wird schließlich in einem Wald in der südostenglischen Grafschaft Kent gefunden, 80 Kilometer von Clapham entfernt - und nur wenige Meter von einem Grundstück, das dem Täter gehört.

Die Überwachungskamera eines Busses zeigt, wie Everard von einem Mann in einem Mietwagen abgefangen wird. Die Überprüfung ergibt, dass der Polizist das Auto ausgeliehen hat. Sie habe gegen die Lockdown-Regeln verstoßen, gibt Wayne C. der Frau zu verstehen. Er zeigt ihr seinen Dienstausweis und legt ihr Handschellen an, so schildert es Staatsanwalt Tom Little am Mittwoch.

Mithilfe weiterer Überwachungskameras, die in Großbritannien auch an Straßen angebracht sind, rekonstruieren die Ermittler und Ermittlerinnen die Fahrtroute ihres Kollegen und finden weitere Indizien. Offenbar hat der Polizist eine Entführung geplant: Wenige Tage vor der Tat habe er nicht nur das Auto gemietet, sondern auch Teppichschoner gekauft, berichtet etwa die BBC. Sarah Everard ist dann wohl ein Zufallsopfer.

Wayne C. behauptet zunächst, osteuropäische Gangster hätten ihn gezwungen, eine Frau zu entführen und ihnen zu übergeben, um Schulden zu begleichen. Erst unter Druck gesteht er, Sarah Everard getötet zu haben. Laut Obduktion stirbt sie durch "Druck auf den Hals", die Tatwaffe soll ein Polizeigürtel gewesen sein. Der 48-Jährige soll die Leiche dann mit Benzin übergossen, angezündet und in einem Tümpel geworfen haben. "Er hat meine Tochter behandelt, als wäre sie ein Nichts, und sie entsorgt, als wäre sie Müll", sagt die Mutter von Sarah Everard vor Gericht.

"Wir sind nicht sicherer als vor sechs Monaten."

Auf die Arbeitgeber von Wayne C. wirft der Fall kein gutes Licht: Kurz nach seiner Festnahme stellt sich heraus, dass der ehemalige Beamte sich in Fast-Food-Restaurants entblößt hat, aber weiterhin im Dienst bleiben darf. Nach seinem Mordgeständnis wird er mit sofortiger Wirkung entlassen. C. habe alles verraten, wofür die Polizei stehe, sagt eine Vorgesetzte. "Wir alle in der Met sind entsetzt, angewidert und wütend wegen der Verbrechen dieses Mannes ... Es tut uns zutiefst leid."

Doch nicht nur der Umstand, dass der Täter ein Polizist ist, der seinen Polizeiausweis für ein Verbrechen nutzte, schadet dem Ruf der Metropolitan Police. Hinzu kommen die hässlichen Bilder, wie Beamte die Mahnwache für Sarah Everard unter Berufung auf Abstandsregeln gewaltsam auflösen. Viele stellen nun auch infrage, ob die Polizei Anzeigen von Frauen, die sich bedroht fühlen, ernst nehme. Cressida Dick, Chefin von Scotland Yard, muss um ihren Job kämpfen. Premierminister Boris Johnson verspricht im Unterhaus, "das grundsätzliche Problem des alltäglichen Sexismus" anzugehen. Und mehr Geld.

Mitte September wiederholt sich die Geschichte in London. Wieder verschwindet eine Frau auf der Straße im Dunkeln. Wieder ist es früher Abend. Und wieder demonstrieren danach Hunderte Frauen. Die Leiche von Sabina Nessa wird am 20. September, einen Tag nach der Vermisstenmeldung, in einem Park entdeckt.

Es sei "herzzerreißend, dass wir sechs Monate nach der Ermordung von Sarah Everard um weitere Frauenleben trauern, die durch männliche Gewalt verloren wurden", schreibt Anna Birley von "Reclaim These Streets". Es habe so viele Worte gegeben, aber so wenig sei passiert. Ganz ähnlich fällt das Urteil von Mitbegründerin Jamie Klingler im Telegraph aus. Sie glaubt: "Wir sind nicht sicherer als vor sechs Monaten."

(Mit Material der Agenturen)

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