Süddeutsche Zeitung

Lustiger Politiker-Tweet:Nie war ein Ä so nötig wie jetzt

Lesezeit: 2 min

Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt spricht auf Twitter dem Volk aus der Seele - mit einem einzigen Buchstaben.

Von Oliver Klasen

Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, der mit Nachnamen fast so heißt wie der US-Schauspieler, der in den Achtzigerjahren im Fernsehen mit einem fantastischen schwarzen Auto sprach, hat den Tweet des Monats abgesetzt, ach was, den Tweet des Jahres. Sonst bewegt sich die Zahl derer, die seine Twitter-Äußerungen gut finden, im soliden zweistelligen Bereich, aber diesmal räumte Reiner Haseloff 14 000 Likes (bis Freitagnachmittag) ab. Und das mit einem einzigen Buchstaben, einem "Ä", herausgeschickt am Donnerstag um 18:29 Uhr mitteleuropäischer Zeit.

Einige überkritische Kommentatorinnen und Kommentatoren taten die Aktion als simplen Hosentaschentweet ab oder als allzu plumpes Fan-Bekenntnis zu den Ärzten, also der Band aus Berlin jetzt, nicht den Ärzten in den Krankenhäusern, obwohl gerade die 14 000 Likes verdient hätten.

Nein, Haseloff hatte sicher mehr im Sinn. Ä wie Ära, wollte er etwa seinen Rücktritt formulieren? Ä wie Äste oder Äxte - beschrieb er, wie er sich nach Ministerpräsidentenkonferenzen im heimischen Garten abreagiert? Ä wie Ätna, Ägypten oder Äquatorialguinea - war das ein Hinweis auf die Reisen, die im Sommer wieder möglich sind? Ä wie Ämterhäufung - steckte darin eine Kritik an allzu geldgierigen Parteifreunden? Doch diese Äxegese greift vermutlich zu kurz.

Frühere Ä-stheten wie Boris Becker und Edmund Stoiber erblassen vor Neid

Tatsächlich spricht vieles dafür, dass Haseloff das singuläre Ä bewusst gesetzt hat. Radikaler Reduktionismus aus Magdeburg, in dem sich alle wiederfinden. Twitterprofi, der er ist, stellte Haseloff eine halbe Stunde, nachdem das Ä in der Welt war, öffentlich fest, dass sein Werk ein Erfolg war. Frühere Ä-stheten wie Boris Becker oder Edmund Stoiber stellte der Mann aus Sachsen-Anhalt in den Schatten. Der aufs Äußerste reduzierte Zwischenruf aus der Staatskanzlei beschreibt die Stimmung im Land perfekt. Nie war ein Ä so nötig wie jetzt. Nie steckte so viel Kraft und visionäres Denken in einem einzigen Zeichen.

Ä, warum gibt es eine mühsam installierte Corona-Notbremse, die bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 greifen soll, und wenn wir auf den Abgrund zurasen, ziehen wir die Notbremse nicht, sondern diskutieren, ob das mit der Notbremse überhaupt eine gute Idee war?

Ä, warum mutet man Kindern und Eltern, Lehrerinnen und Erziehern zu, dass sie im Limbo zwischen Distanz-, Wechsel- und Querlüftungspräsenzunterricht irgendwann verrückt werden?

Ä, warum streben wir in Deutschland beim Impfplan nach der perfekt ausgeklügelten Lösung, die allen Eventualitäten gerecht wird, und machen es nicht einfach wie die in Amerika, die jeden, der nicht bei drei auf dem Baum ist, eine Nadel in den Arm jagen?

Ä, warum verfolgt die Polizei mit Streifenwagen Jugendliche in Parks, anstatt sich mal in Firmen umzusehen, deren halbgare Hygienekonzepte niemand kontrolliert?

Ä, warum darf immer der Söder und der Müller neben der Merkel sitzen und nicht ich?

Ä, warum wird immer das Saarland als Größenvergleich herangezogen, wenn irgendwo ein Waldbrand wütet oder ein Öltanker leck geschlagen ist, und nicht Sachsen-Anhalt, obwohl es das genauso verdient hätte?

Ä, und warum zur Hölle ist an diesem Samstag Frühlingsanfang, obwohl es seit Tagen schneit?

Man müsste eine ganze Woche nur Äs twittern!

Man müsste ja mal richtig auf den Tisch hauen. Man müsste eine ganze Woche lang nur Äs twittern, um all das Anprangerungswürdige gebührend anzuprangern. Reiner Haseloff hat die Debatte angestoßen, er hat uns herausgeholt aus der Lethargie, in die wir alle über Monate langsam hineingeraten sind. Er hat Twitter auf seine Essenz reduziert. Und vielleicht wird er die Tragweite seines Coups erst in ein paar Jahren begreifen.

So wie der Softwareentwickler Jack Dorsey, der vor genau 15 Jahren am 21. März 2006 den ersten Tweet der Geschichte abschickte. "Just setting up my twttr" ("Ich richte nur mein twttr ein") tippte er damals. Es ist die älteste Nachricht, die auf der Plattform verfügbar ist. Jetzt will Dorsey eine digitale Kopie dieses Tweets versteigern - für 2,5 Millionen US-Dollar.

Ä, Respekt.

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