Süddeutsche Zeitung

Nach Amoklauf in Winnenden:Die Fähigkeit zu trauern

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Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun gegen den Vater des Attentäters von Winnenden, während die Schüler gemeinsam Trost suchen.

Bernd Dörries, Ann-Kathrin Eckardt und Marten Rolff

Gegen Tote kann man nicht ermitteln, und so rekonstruierten die Verantwortlichen von Polizei und Staatsanwaltschaft fünf Tage lang den Amoklauf von Winnenden, ohne dass sich ihre Recherchen gegen jemanden richten konnten: Der Täter Tim Kretschmer hatte sich erschossen. Am Montag jedoch leitete die Staatsanwaltschaft Stuttgart ein Ermittlungsverfahren gegen den Vater des Attentäters ein.

Es bestehe der Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung, sagte ein Sprecher des Justizministeriums. Die Staatsanwaltschaft hat sich das gut überlegt, es wird ein schwieriges Ermittlungsverfahren, von dem man nicht sagen kann, ob es zu einer Anklage führen wird.

Relativ wahrscheinlich ist, dass gegen den Vater eine Geldstrafe verhängt wird, weil er die Tatwaffe, eine Beretta, im Schlafzimmer herumliegen ließ, anstatt sie wie vorgeschrieben wegzuschließen. Mehr als eine Ordnungswidrigkeit ist dieser Verstoß gegen das Waffenrecht normalerweise jedoch nicht - aber nur in Fällen, in denen niemand zu Schaden kommt.

Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren und einem möglichen Prozess wegen fahrlässiger Tötung in fünfzehn Fällen müssen die Ermittler nun wohl nachweisen können, dass der Vater von einer psychischen Krankheit des Sohnes wusste, womöglich sogar Anzeichen dafür hatte, dass Tim eine Gewalttat plante und dennoch eine Waffe frei herumliegen ließ - so also fahrlässig zur Tötung von 15 Menschen beitrug.

Seit Freitagabend wird der Vater durch einen Rechtsanwalt vertreten, der am Samstag schon mal dementierte, dass Tim Kretschmer überhaupt in psychiatrischer Behandlung war. "Es hat nie eine richtige Psychotherapie gegeben", sagte Achim Bächle.

Die Ermittler sehen das anders, fünf Mal sei Tim Kretschmer zwischen April 2008 und September 2008 im Klinikum am Weissenhof in Weinsberg "vorstellig" geworden, sagte die Polizei. Nach Angaben des ärztlichen Direktors der Klinik wurde der Jugendliche dort mehreren Tests unterzogen und ihm eine weiterführende Behandlung an der Klinik in Winnenden empfohlen. Jene Klinik, in deren Garten er am Mittwoch den Hausmeister erschoss.

In den Schulen, die direkt neben der Albertville-Realschule liegen, hat am Montag der Unterricht wieder begonnen. Die Jugendlichen trotten mittags zu den Bushaltestellen, die noch am Wochenende von 26 TV-Übertragungswagen zugeparkt waren. Sie sind nun fast alle weg und es ist nicht so, dass man darüber traurig wäre in Winnenden.

Der Ort wurde tagelang durchleuchtet. Im Fenster des Gymnasiums hängt ein Plakat: "Lasst uns in Ruhe trauern." Und an diesem Montag kann man auch fast in Ruhe trauern und in die Schule gehen. Das einzige Hindernis sind heute nicht die Kameras sondern die Bauarbeiter, die den Fahrradweg vor dem Gymnasium aufgerissen haben.

Den Schülern der Albertville-Realschule wurde es freigestellt, ob sie am Montag wieder zusammenkommen wollten. Diejenigen, die kamen, saßen dann in Jahrgängen zusammen mit ihren Lehrern und sechs Schulpsychologen für jeden Jahrgang. "Die einen sind ruhig und wollen nur jemanden an ihrer Seite, andere weinen und müssen getröstet werden, und manche wiederum erzählen, was sie erlebt haben", sagt Annette Kull, die für das Deutsche Rote Kreuz Notfallseelsorge koordiniert.

Etwa 200 Ehrenamtliche sind im Einsatz, die sich um die Betroffenen kümmern. "Übers Wochenende waren die Kinder zu Hause, geborgen in ihren Familien", sagt Kull, die normalerweise als Lehrerin arbeitet. "Am Montagmorgen mussten sie wieder einen ersten Schritt alleine wagen."

Das sei einigen Schülern und besonders den Eltern nicht leicht gefallen. Viele begleiten ihre Kinder zu den Bussen, die schon um 7.30 Uhr losfahren und die Schüler in Turnhallen und Gemeindezentren der Nachbargemeinden bringen. Psychologisch betreut werden nicht nur die Schüler der Albertville-Realschule, sondern auch Klassen des angrenzenden Lessing-Gymnasiums, die Teile des Geschehens vom Fenster aus mitverfolgen konnten.

"In der Betreuung zeigen wir ihnen etwa, wie sie sich entspannen können", sagt Kull. Sie malen, zeichnen und spielen zusammen - vor allem reden sie. Nach der Phase des Schocks beginnt nun die Trauerarbeit. Ein halbes Jahr lang werden die Klassen von mindestens einem oder mehreren Psychologen begleitet. "In den ersten vier Wochen ist es normal, wenn die Kinder schlecht schlafen. Doch nach vier Wochen sollten die Bilder langsam blasser werden." Ein Teil des Lebens würden sie aber bleiben, sagt Kull.

Am Samstag werden sie alle zusammen zur zentralen Tauerfeier gehehen, 30000 Menschen werden in Winnenden erwartet, darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Horst Köhler.

Bilder, die für immer bleiben

Alexandra Winter war unter denen, die mit der Polizei den Eltern die Nachricht vom Tode ihrer Kinder überbrachten. Winter ist Pfarrerin und Notfallseelsogerin, sie schaltete sich immer dann ein, wenn die Polizisten die Umstände geschildert hatten. Wenn die Frage nach dem Warum kam.

"Wie kann Gott so viel Leid zulassen", diese Frage hat sie oft gehört, sagt Winter, sie stand überall im Mittelpunkt. "Es wird aber nicht die beherrschende Frage sein. Es gibt Gegenerfahrungen", sagt Winter. Sie versuche zu vermitteln, dass das Leben nicht nur aus diesem Ereignis besteht.

Ob und wann die Kinder in ihr altes Schulgebäude zurückkehren, ist noch nicht entschieden. In jedem Fall sei der Tag der Rückkehr für viele Schüler "ein Horror", sagt Hans-Joachim Röthlein, der in Winnenden ein Team von zehn bayerischen Psychologen koordiniert. Röthlein hat vor knapp sieben Jahren am Erfurter Gutenberg-Gymnsasium Krisenhilfe geleistet. Die Erfahrung zeige, dass bei der ersten Begehung am "Ort des Grauens" oft erneut die schrecklichen Bilder ausgelöst werden.

Meistens wollten die Schüler aber auf jeden Fall an ihre Schule zurück, sagt Röthlein, "auch um sich nicht von einem Täter vertreiben zu lassen." In Erfurt, wo die Schüler nach einer langen Renovierungszeit in ihr Gebäude zurückkehrten, war das ein wichtiges Argument. Es sei "unendlich schwer zu ertragen", so sagte Schulleiterin Christiane Arp damals, "dass das, was so viele Menschen in so vielen Jahren aufgebaut haben, in zehn Minuten zerstört sein soll."

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SZ vom 17.03.2009/akh
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